Die Stadt atmet viel ruhiger, wenn die Sonne untergeht und sich das Blau der Dämmerung wie ein großer, transparenter Vorhang über sie legt. Der Vorhang ganz luftig und leicht und irgendwie schwer, wenn man nach der Flachheit der Atmung geht. Flache Atmung, flacher Puls der Großstadt: Der Feierabendverkehr ist vorbei, die Leute sitzen noch nicht in und vor den Bars. Die Ruhe vor dem Sturm.
Jetzt, als ich über die Überführung hinterm Ostkreuz entlanggehe, ist der Osten schon blau, der Westen noch aprikot. Die Grenze des Vorhangs ist gerade über mir. Das Ostkreuz ist eigentlich immer ein wuseliger Ort - viel Bewegung. Jetzt gerade wird gewartet: Auf das Abendbrot beim Fastfoodrestaurant oder die nächste S-Bahn. Hinten, im Lager des Restaurants ist Zeit für eine Pause, während die Bahn einrollt.
Einige Schritte weiter - in der Unterführung unter der Ringbahn hängen Plakate. Mal laut, mal leise, aber immer mit einer Botschaft. Botschaften, die kaum wahrgenommen werden von uns Großstädtern. Wir sind in unserer Welt: Kommen vom Training, von der Arbeit, sind auf den Weg zu Freunden oder auf dem Weg, die Kneipen zu füllen. Wir kommen aus dem Winter, freuen uns auf den Sommer.
Viele Schritte weiter bin ich schon die halbe Frankfurter Allee entlangspaziert, da ist es schon dunkel. Die grelle Lichtreklame einer Brauerei lädt ein: zu Burger, Wings und Bier. In stylischen Kontrasten - ganz wie es der Friedrichshain gewohnt ist. Vor und in ihr ist es still. Asiatische Läden, genauso grell aber ruhiger. Eine kleine Kneipe, die in der alten Hausfassade untergeht. Sie ist unscheinbar, obwohl sie zu denselben Mitteln greift wie Brauerei und Asialaden. Einzig die Silhouette, die an ihr vorbeispaziert, als Kontrast.
Die Atmung der Stadt bleibt auch nach der blauen Stunde flach im Mai. Ganz ruhig, unhektisch. Ganz anders, als man es aus den Sommern gewohnt ist. Es ist auch Montag, Ruhetag, Wochentag. Viel zu sehen, wenig zu hören.