Reiseskizzen Island 2022

Five Seconds!

Roller Derby: In einer bunten Welt in einer bunten Welt.

Der Boden der Sporthalle in Seltjarnarnes bebt. Zwanzig Rollschuhe stampfen im Takt der düsteren Musik auf den glänzenden Hallenboden. Wenige Minuten später hallt ein markanter Ruf durch den großen Raum: "Five Seconds!". Die anschließenden Schritte wirken präzise wie eine einstudierte Choreografie, sie dauern nur wenige Sekunden. Zwei Spieler*innen machen sich sprintbereit, wenige Meter davor werden die Verteidigungen aufgebaut. Einige Augenblicke lang kann man nur das verhallende Echo dieser Schritte hören. Es folgt ein schriller Pfiff, der in der Stille noch viel lauter wirkt, als er eigentlich ist. Als sich die vielen Körper auf Rollschuhen in Bewegung setzen, ist das Beben zurück. Es ist ein unregelmäßiges Rumpeln. Ein bunter Sport bringt eine Sporthalle in einer bunten, von Erdbeben geprägten Welt zum Beben.

Welcome to Roller Derby!

Vor dem Spiel

Ich bin spät dran. Eigentlich wollte ich schon lange auf der Straße sein und hier und da mal einen Zwischenstopp zulassen. Jetzt muss ich zusehen, dass ich pünktlich am Ziel ankomme. Das Ziel ist 50 Kilometer entfernt. Der Weg dorthin führt über die steilen Berge zwischen Selfoss und Reykjavík. Zwischendurch schauert es, die Wolken ziehen hier oben in einem unglaublichen Tempo quer über die Fahrbahn. Die Wolken sind eher ein inhomogener, schneller Nebel. Selbst im dritten Gang hat der Dacia Probleme, die Steigung zu meistern. Im Hostel der Mannschaft wird währenddessen schon gefrühstückt. Es ist der Tag, auf den alle hingefiebert haben. Der Tag des Spiels, es ist "Bouttag". Punkt 11:30 ziehe ich den Zündschlüssel auf dem Parkplatz des Hostels. Wir hatten uns zwischen halb zwölf und zwölf verabredet. Irgendwann dann soll die Vorbesprechung beendet sein und wir werden gemeinsam zur Halle fahren. Ich nutze die Zeit, um den Innenraum des Autos ein wenig auf Vordermann zu bringen. Der Müll in den Seitenfächern will endlich entsorgt werden, mein Kram ist überall im Kofferraum verteilt.

Zunächst füllt sich der Parkplatz mit Teammitgliedern, dann füllt sich der Kofferraum recht schnell mit Sporttaschen. Als wir in Richtung Seltjarnarnes aufbrechen, einem Vorort von Reykjavík auf der gleichnamigen Halbinsel im Westen, füllt sich der Innenraum des Dacias merklich mit Vorfreude und leichter Anspannung. Vor der Sporthalle angekommen, harren wir noch ein wenig im warmen Auto aus, bis das Team sich schließlich auf den Weg zum Umziehen und Aufwärmen macht. Ich schaue mich derweil ein wenig in der Gegend um.

Das Wir steht heute im Vordergrund. Das Wir, das mich so sehr am Roller Derby fasziniert, obwohl ich nur Zuschauer bin. Oder vielleicht, weil ich nur Zuschauer bin. Ganz verstehe ich die Faszination auch noch nicht. Roller Derby wirkt auf mich eher wie die Bezeichnung für eine Gemeinschaft, ein Statement. Deutlich mehr, als eine bloße Freizeitbeschäftigung. Der Sport an sich ist genauso wichtig. Er ist aber genauso ein Medium, ein Multiplikator. Roller Derby scheint wie der Prototyp dessen zu sein, dass die Summe der Einzelteile mehr als das Ganze sind. Es geht um Commitment und Partizipation, um Taktik und Beweglichkeit, und vor allem um Inklusion und Diversität, Respekt und Toleranz. Der Sport scheint auch eine Art Safe Space zu sein. Das spürt man auch als Zuschauer und Anhang.

Das Spiel

Roller Derby ist eigentlich ganz einfach. Es gibt zwei konkurrierende Teams in einem Spiel. Und jeweils fünf Spieler*innen pro Team auf dem fast ovalen Spielfeld, dem "Track". Von den fünf Spieler*innen ist eine "Jammer*in", eine "Pivot" und die drei anderen sind die "Blocker*innen". Das Ziel der Jammer*in ist, an den gegnerischen Spieler*innen vorbeizukommen, welche das natürlich versuchen zu verhindern. Die Jammer*in trägt eine Haube mit Stern über dem Helm, der Pivot eine mit einem breiten Balken. Durch Übergabe der Jammerhaube kann die Jammer*in jederzeit dem Pivot die Jammerrolle zuweisen. Dann spricht man von einem "Starpass". All das findet auf Rollschuhen unter vollem Körpereinsatz statt. Damit wäre das Spielprinzip fast ausgeschöpft. Für Neulinge sieht der Sport sehr direkt und fast brutal aus: Es laufen Spieler*innen aufeinander zu, stoßen sich gegenseitig vom Track, schieben sich hin und her, tragen teilweise Kampfbemalung im Gesicht. Untermalt wird das alles mit Spieler*innennamen voller Selbstironie und Wortwitz. So ungeordnet das Spiel anfangs ausschaut, so strukturiert und durchreglementiert ist es allerdings auch. Bis auf die allerletzte Bewegung. In der Regel sind ungefähr so viele Schiedsrichter*innen um den Track herum, wie Spieler*innen. Teils auf Rollschuhen, teils ohne - je nach Rolle. Regelwerk und Spielablauf sind auch das, was Roller Derby letztlich so komplex macht. Die erste vollständige Überholung der Blocker*innen entscheidet darüber, welche der beiden gegnerischen Jammer*innen sogenannte "Lead Jammer*in" ist. Sie kann anschließend jederzeit den zweiminütigen Jam beenden, "(ab-)callen" sagt man dazu. Ein "Jam" ist nichts anderes, als eine Spieleinheit, nach der die Teams ausgewechselt werden. Währenddessen ruht sich das ausgewechselte Team aus und passt seine Strategie in Rücksprache mit der Jammer*in an. Ein Spiel besteht aus zwei Halbzeiten zu je 30 Minuten und eben zahlreicher solcher Jams. Mal die vollen zwei Minuten lang, mal strategisch von der Lead Jammer*in abgecallt, die verhindern möchte, dass die andere Jammer*in auch noch Punkte macht, nachdem sie am gegnerischen Team vorbeigezogen ist.

Ich wusele um die Mannschaft herum, als sie sich für das Spiel fertig macht, versuche einige Momente einzufangen. Mittlerweile machen sich die Schiedsrichter*innen auf dem Track warm. Es wabern unverständliche Silben durch die große Halle. Üblicherweise findet insbesondere die Moderation auf Englisch statt. Diesmal ist auch die Moderation auf Isländisch. Das macht die Orientierung etwas schwieriger. Dann ist es auch schon halb drei. Kurz darauf drehen die Teams ihre Vorstellungsrunden. Spieler*in für Spieler*in wird mit Nummer und Namen vorgestellt. Wölf*innen stehen Bär*innen gegenüber, Blau-Schwarz gegen Rot-Weiß. Ragnarök, das isländische Team, orientiert sich symbolisch an der nordischen Mythologie. Ihr Logo ist ein Wolf, der eine brennende Rollschuhrolle frisst. Das Logo Bear City's ziert ein brüllender, kräftiger Bär. Untermalt von einem düsteren Orchestersoundtrack versucht das isländische Team mit einem Marsch im Gleichschritt seine Stärke zu demonstrieren. Der Boden poltert. Im Publikum dominieren natürlich die isländischen Fans, sie feuern ihre Favoriten an. "Five Seconds", ruft der Jam Timer. Langgezogenes "Five", kurzes "Seconds". Das ist der vertraute, elektrisierende Klang, der die Halle vor atmosphärischem Knistern erstummen lässt. Die Jammer*innen machen sich bereit, auf die Packs zuzustürmen.

Die erste Halbzeit ist ein emotionales Auf und Ab. Die Cheers der isländischen Fans dominieren, moralisch lässt sich Bear City allerdings nicht aus der Fassung bringen. Es folgen viele Time Outs. Phasen, in denen die eine oder andere Schiedsrichterentscheidung diskutiert werden muss. Der Punktestand ist aktuell recht ausgeglichen. Mal führt die eine, mal die andere Mannschaft. Eine Stunde nach Anpfiff, und immer noch in der ersten Halbzeit, steht es im siebzehnten Jam 81 zu 81. Kurz darauf übernimmt Ragnarök die Führung. Es steht 89 zu 82, die Pfiffe kündigen die Halbzeitpause an.

Die Motivation der Isländer*innen und Berliner*innen ist groß. Die zweite Halbzeit beginnt. "Fiiiiive Seconds!", alles ist möglich, jeder Spielausgang scheint gleichermaßen wahrscheinlich. Im dritten Jam steht es bereits 100:96 für Bear City. Sie bauen den Vorsprung stetig aus. Im elften Jam dann das 145:99. Fast zwei Stunden sind bereits seit Anpfiff vergangen, das Spiel wird häufig unterbrochen. Es wird immer kühler in der Halle. Während Schiedsrichterentscheidungen diskutiert werden, halten sich die Spieler*innen in Bewegung und warm, unterhalten sich miteinander. Die Kühle der Halle wird von dem herzlichen Umgang miteinander auf dem Track aufgefangen. Das ist einer der Punkte, die ich an dem Sport so schätze. So brutal das Spiel von außen aussehen mag, so selbstverständlich freundschaftlich gehen auch die gegnerischen Teams miteinander um. So selbstverständlich, dass es auffällt. Verglichen mit einer "stereotypen Männersportart" wie Fußball, können die Gegensätze nicht größer sein. Nach Schwalben sucht man vergebens. Mein Eindruck ist, dass es beim Roller Derby um das Stehen geht. Und zwar aufrecht, in vielerlei Sinn. Aufstehen auf dem Track, nachdem man hingefallen ist, genauso wie symbolisch: Aufstehen für Diversität, Einstehen für das Team, Ausstehen von Krisen.

Mehr als zwei Stunden ist es her, dass das erste "Five Seconds!" die Halle für einen kurzen Augenblick in fast absolute Stille versetzte. Nun beginnt die isländische Fanbase zu toben. Vicious, die isländische Jammer*in, überrascht im letzten Jam mit unfassbar vielen Punkten. So viele, dass ich ins Schwitzen gerate. Ich verliere den Überblick, ob die Punkte dieses Jams bereits im Endergebnis verrechnet sind. Glücklicherweise sind sie das. Das Finale ist spannend. Dann drei lange Pfiffe und das Bangen beginnt. Man spürt das gleichzeitige Aufkommen von Anspannung und Entspannung, während das offizielle Endergebnis erwartet wird.

179:165 zeigt das Score Board. Mit dem relevanten Zusatz: "Final Score". Das Endergebnis fällt deutlich und doch so knapp aus. Es wird gejubelt, das Ergebnis setzt dem Islandtrip natürlich die entscheidende Krone auf. Traditionell versammeln sich die Fans nach dem Spiel am Rand des Tracks. Die Spieler*innen drehen einige Runden und klatschen sich mit den Fans ab. Jede*r ist irgendwie Teil vom Spiel. Wenn man sich umschaut, sieht man nur strahlende Gesichter. Zufriedene Spieler*innen, zufriedene Fans, zufriedene Trainer*innen und zufriedene Officials.

Nach dem Spiel

Nach Verkündung des offiziellen Punktestands und dem gemeinsamen Foto muss alles schnell gehen. Niemand hat mit einem derart langen Spiel gerechnet und die Halle muss freigeräumt werden. Alle Spielbeteiligten packen an. Danach geht es gemeinsam ins angrenzende Schwimmbad. Es ist ein Freibad auf dem Dach des Sportkomplexes mit verschieden temperierten Becken und sogar einer Rutsche. Hier lässt es sich aushalten, hier nimmt man sich die Zeit für entspannte Unterhaltungen. Der isländische Trainer erzählt von der Beziehung der Isländer*innen zum Entspannen im warmen Wasser. Im Land der Geothermie gibt es davon im Überfluss. Das gemeinsame Bad ist ein wichtiger Bestandteil des Soziallebens auf der Insel. Gespräche, die man bei uns in der Kneipe führt, erfolgen hier im erdwarmen Wasser. Direkt im Anschluss sind alle in einer Food Mall verabredet. Es ist mittlerweile dunkel und es hat sich eingenieselt, als die Autos auf den gut gefüllten Parkplatz rollen. Man lässt es sich bei Pizza, Pasta und Burritos gut gehen. Es soll auch die Stärkung für die Feier sein, die im Anschluss in der Trainingshalle Ragnaröks ausgerichtet wird. Die Trainingshalle, eine kleine Industriehalle auf einem abgelegenen, fast verlassen wirkenden Industriegelände, ist wie gemacht als Trainingsort. Ein bisschen versprüht sie auch Jugendclubatmosphäre. Sie bietet zwar nicht genug Platz für einen Track in voller Größe, ist aber umso liebevoller eingerichtet. Preisverleihungen, gemeinsame Spiele, Karaoke und entspannte Gespräche füllen die Halle bis spät in die Nacht mit einem lebendigen Klang. Das Beben bleibt aus.

Dísa

Der wunderbare Duft frisch gebackenen Zitronenkuchens strömt mir entgegen, als ich die Tür zu Dísas Haus leise öffne. Es ist halb zwei. Dennoch: "Leise" wäre gar nicht nötig gewesen. Das Haus ist hell erleuchtet, Dísa telefoniert aufgeweckt barfuß in der Küche. Es ist warm im Haus, die Fußbodenheizung ist ein Segen, jetzt wo ich nass, leicht durchgefroren und müde im Flur stehe. Sie reißt sich kurz vom Hörer los, um mich zu begrüßen, während sie gleichzeitig den Zuckerguss anrührt. Als sie das Gespräch beendet, gratuliere ich ihr zum Geburtstag und habe eigentlich nur noch den Wunsch, mich hinzulegen. Dísa besitzt die Fähigkeit, ein Gespräch so zu führen, dass man ihr gerne zuhört. Und so schafft sie es, dass man sich nicht so einfach losreißen kann. Sie verwickelt mich in eine bunte Themensammlung, genauso wie vorhin. Vor der Party wollte ich nur kurz zum Hallosagen vorbeikommen, ankündigen, dass es heute spät bei mir wird und den Schlüssel mitnehmen. Daraus wurde eine ausgedehnte Tour durch ihr Haus. Jeder Gegenstand hat einen sorgfältig ausgewählten Ort, hat meist auch eine Geschichte. "Das hier vorne ist meine Großmutter, sie war Schauspielerin und Regisseurin", sagt sie und zeigt auf das Bild einer schicken, älteren Dame. "Das Bild meines Großvaters habe ich auf dem Flohmarkt gefunden, er war Premierminister". "Die Bilder da hinten hat ein Künstler gemalt, der bei mir gewohnt hat. Ich weiß nicht genau, was ich an ihnen mag, aber ich mag sie". Im Übrigen solle ich mich morgen nicht wegen der vielen Menschen im Haus wundern, erklärt sie. Wie viele kämen, wisse sie nicht, aber sie hat zu ihrem runden Geburtstag geladen. Es gebe auch Musik. Ihr Freund, ein bekannter Singer-Songwriter, wolle den Abend mit ein paar Freunden musikalisch begleiten. Unter dem Eindruck dieses vorherigen Gespräches stehend, schiebe ich also meine Müdigkeit beiseite. Während sie nebenher ihre Geburtstagsvorbereitungen erledigt, unternehmen wir eine Reise durch alle möglichen Themengebiete. Wir unterhalten uns über Musik, über Sprache, über Island, Traditionen, über das Ländliche, über das Reisen und auch das Fernweh. Und natürlich über Roller Derby. Als ich das Spiel erkläre, fällt der Groschen: Sie bedauert es, nicht zum Spiel gekommen zu sein, schließlich kenne sie den Sport über eine ehemalige Schulfreundin. Als sich das Thema wieder um das Reisen dreht, erzählt sie von ihrer Vergangenheit in Fernost, ihrer Selbstständigkeit dort. Und von den verschneiten, grau-in-grauen Februartagen auf Island; der bedrückenden Atmosphäre des isländischen Winters. Ihr Blick ist jetzt müde und wirkt melancholisch. Das ändert sich erst, als sie mir den nicht veröffentlichten Song ihres Partners vorspielt. Zwischendurch stoppt sie die Musik. Sichtlich berührt übersetzt sie Zeile für Zeile ins Englische. Jede Zeile bringt sie mehr zum Strahlen. Der Song beschreibt den Moment ihres Kennenlernens, ihrer ersten Dates und wie glücklich die beiden zusammen seien. Dísa wählt ihre Worte sehr sorgfältig. Häufig sucht sie nach noch passenderen Worten. Das ist mir schon beim ersten Gespräch gestern Abend aufgefallen. Sie sucht nicht aufgrund fehlenden Vokabulars, ihr Englisch ist beeindruckend gut. Eher, weil ihr wichtig zu sein scheint, dass man sie versteht. Sie korrigiert sich immer mal wieder. Während der dabei entstehenden Pausen fixiert sie einen Punkt, der ganz weit in der Ferne zu liegen scheint. Als wäre die Welt dort viel bunter als hier. Erst recht an einem verschneiten Februartag.

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