Reiseskizzen Island 2022

Wenn die Welt sich in allen Farben zeigt

Die Natur ist bunt. Die Menschen sind bunt. Die Welt ist bunt. Wenn das alles an einem Ort zusammenkommt, dann ist es ein schöner Ort. Wenn es einen Ort gäbe, das alles zu feiern, dann wäre es hier. Hier, wo alles zusammentrifft. Zwischen Gemeinschaft und Einsamkeit, zwischen ursprünglicher Natur und unnatürlicher Zivilisation. Schräg, diese Reise durch das bunte und doch so monochrome Land, aber so schön.

Nachdem sich die Schranke des Flughafenparkplatzes hebt, sind es nur noch ein paar Schlenker und man befindet sich auf der Schnellstraße ostwärts in die Hauptstadt. Nur wenige Kilometer, bis man die dichten und vollen Dampfschwaden der Bláa Lónið, der Blauen Lagune, am Horizont sieht. Dort, entlang der Straße 43 nach Süden, fahren wir gleich wieder vorbei. Die Gespräche im vollbesetzten SUV sind angeregt und für mich fast ungewohnt. Die Themen: Der Check-in, der Flug, meine Erlebnisse und jene der Teammitglieder, die bereits auf der Insel sind und im Gruppenchat gepostet haben. Und natürlich die heutige Abendplanung und das morgige Spiel gegen die isländische Nationalmannschaft. Ich muss aufpassen: Auf dem Streckenabschnitt um die Blaue Lagune herum wird die Durchschnittsgeschwindigkeit erfasst. Die Straße verführt nur zu sehr zum Reißen der 90er-Marke. Diesmal fällt es mir leicht, das nicht zu tun. Drängler kann ich dank des bis auf den letzten Liter gefüllten Kofferraums geflissentlich ignorieren. Ich weiß gar nicht, was hinter uns passiert. Ich schaue nur noch des Gesprächs wegen in den Rückspiegel. Optimistisch darüber, den Weg nun endlich zu kennen, möchte ich das Stück nach Seltún komplett ohne Navi fahren. In Grindavík schalte ich es am zweiten Kreisverkehr wieder ein: Wir haben uns verfranst. Fünf Tage Alleinreisen haben mich fast schon aus der Übung gebracht, gleichzeitig ein Gespräch zu führen und nebenher etwas Anderes zu machen. Ich erzähle ein wenig von unserem Zwischenziel Seltún, als wir mit den erlaubten 30 das steile Stück im Umbau befindlicher Straße gen Himmel fahren. Linkerhand die imposante, zerklüftete Vulkanlandschaft, rechterhand der Nordatlantik. Kurz darauf, die Schilder zeigen wieder 50-70-90, biegen wir bereits auf die 42 in Richtung Seltún. Den meisten fällt zunächst der Schwefelgeruch auf. Er scheint im Autoinneren unangenehmer zu sein, als außerhalb. Wir verbringen eine gute Stunde hier. Es werden Erinnerungsfotos geschossen, es wird über den blubbernden Boden gestaunt, den warmen Dampf, der über die hölzernen Stelen dieses beeindruckenden Ortes weht. Ein tschechisches Kamerateam begleitet zwei ganz in Schwarz gekleidete Protagonisten, wie sie durch die weißen Dampfschwaden marschieren. Ob Musikvideo, Dokumentation oder Indiefilm erkennt man nicht. Die Stimmung ist gut im Auto, als wir unsere Fahrt in die Hauptstadt fortsetzen. Alle scheinen zufrieden.

Nördlich Seltúns schlängelt sich die nun hügelige Straße 42 das Nordwestufer des Sees Kleifarvatn entlang. Der See liegt in einem weitläufigen Talkessel, linkerhand überragt uns der Bergkamm. Jenseits des Sees wandelt sich die Landschaft abrupt zu einem weitläufigen, fast ebenen Lavafeld. Schon von Weitem ist das "Aurora Basecamp" ausgeschildert. Kurz darauf befinden wir uns wieder auf der Verbindungsstraße zwischen Flughafen und Hauptstadt. Die weitläufige Natur weicht der immer dichter werdenden Bebauung der Großstadtperipherie. Je näher wir Reykjavík kommen, desto überraschter bin ich. Ich habe definitiv nicht mit so dichtem Verkehr gerechnet, mit so einem komplexen Schnellstraßensystem. Und mit der ruppigen Fahrweise der sonst so entspannten Isländer. Kreuzungen und Kreisverkehre wechseln sich dicht an dicht ab, es ist fast schon anstrengend, hier unterwegs zu sein. Gut, streng genommen haben wir auch Rushhour. Alle sind unterwegs, alle wollen heim. Viele Kreisverkehre und Kreuzungen und einige Umleitungen später kommen wir sicher am Hostel an. Es liegt in einem sehr grünen Teil der Stadt. Manche nennen es "Dalur", das grüne Tal Reykjavíks. Wir verabreden uns für den morgigen Tag. Irgendwas zwischen 11 und 12 Uhr, Details klären wir morgen früh.

Krýsuvík

Jetzt, wo die nette Gesellschaft mit Check-in und Abendplanung beschäftigt ist, trete auch ich meine Rückfahrt an. Eigentlich sind es nur 50 Kilometer bis zu meinem Hotel in Selfoss. Aber der Entschluss steht schon lange fest: Seltún und die Umgebung um Krýsuvík müssen nochmal als Zwischenstopp herhalten. Dadurch verdoppelt sich die Strecke. Aber zu beeindruckend war die Landschaft, zu verlockend, sich dort noch einmal in Ruhe umzuschauen, zu groß die Neugier zu erfahren, was genau ich übersehen habe. Die Sonne nähert sich ganz langsam, aber immer noch beständig, dem Horizont. Sich in Ruhe umzuschauen, liegt also im Auge des Betrachters. Dank des entspannteren Verkehrs stadtauswärts komme ich immerhin geschmeidiger vorwärts. Knapp hinter dem Aurora-Basecamp sehe ich, wie die Landschaft quer von einer geraden, recht schmalen Furche gequert wird. Vorhin ist mir dieses markante "Detail" gar nicht aufgefallen. Es ist der Grabenbruch, der Island diagonal durchschneidet. Der Ort, oder eher die Linie, an der sich die eurasische Platte mit etwa 2 Zentimetern pro Jahr von der nordamerikanischen entfernt. Der Grund dafür, dass die Erde sich entlang dieser Linie von ihrer aktivsten Seite zeigt: intensiver Vulkanismus garniert mit zahlreichen Erdbeben. Ich steige die wenigen Meter vom Straßenrand herab in den Graben, blicke über ein moosbedecktes Lavafeld, links und rechts davon die kerzengeraden Bergrücken. Mich beeindruckt's sehr. Es beeindruckt mich deutlich mehr, als mit jedem Bein in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent zu stehen.

Krýsuvík heißt das Vulkansystem, zu dem auch die heißen Quellen Seltúns gehören. Nicht weit von hier ist übrigens auch der noch bis vor ganz kurzem aktive Vulkan Fagradalsfjall, der für viel Aufsehen gesorgt hat. Kurz vor unserer Ankunft hat er sich wieder schlafengelegt. Kaum vorzustellen, wie faszinierend es jetzt noch wäre, erdwarme, glühende Lava zu sehen. Wenige Kilometer weiter wird die Straße wieder zur Uferstraße des Sees Kleifarvatn. Als ich auch hier kurz halte, sind zwei Harleyfahrer damit beschäftigt, eines ihrer Gefährte zu reparieren. Auf den ersten Blick wirken sie etwas zwielichtig. Auf den zweiten harmlos und unwahrscheinlich nett. Wir grüßen uns freundlich, zwei Minuten später dröhnt es kurz laut auf und das Dröhnen verhallt wie der Donner nach einem heftigen Gewitter in der Ferne. Ich bin komplett für mich allein in der Stille des großen, unbeständigen Sees, der unter anderem von heißen Quellen gespeist wird. Unbeständig, weil er nach heftigeren Erdbeben gerne mal abläuft wie eine Badewanne, deren Stöpsel man gezogen hat.

Seltún lasse ich diesmal rechts liegen. Es sind nur noch wenige weiße Autos auf dem Parkplatz, der Schwefelgeruch hingegen ist derselbe wie zuvor. Ein Mann mit Warnweste bremst mich aus, ich kenne das Spiel. "Zwei Minuten", sagt er, "Filmarbeiten". "Zwanzig waren's beim letzten Mal", entgegne ich. "Warum fährst du hin- und her?", ist seine Gegenfrage. "Schau dich um", fordere ich auf. Wir schweigen. Es beginnt die goldene Stunde und ich stelle die Playlist lauter. Er bleibt die nächsten zehn Minuten in der Nähe des offenen Fensters stehen.

Krýsuvíkurkirkja

Freundlich nicken wir uns zu, als er wieder die Freigabe bekommt. Diesmal zieht mich das nächste Straßenschild in Richtung Krýsuvíkurkirkja wie ein Magnet an. Bei den letzten Begegnungen auch schon, aber da bot sich die Gelegenheit nicht. Eine erstaunlich gut befestigte Straße führt ins Hinterland. Einige hundert Meter weiter ein Parkplatz. Ich fühle mich direkt an den ersten Abend in Strandakirkja zurückversetzt. Krýsuvíkurkirkja erscheint mir wie ein inszenierter Antagonist zu Strandakirkja. Diese Kirche ganz in Schwarz, trägt den Namen der Feuerlandschaft und ist unbekannt; jene fast komplett in Weiß, thematisch der Küste zugeordnet und ein Touristenmagnet. Feuer ist übrigens das Stichwort: Krýsuvíkurkirkja steht hier erst seit zwei Jahren. Sie wurde über zehn Jahre von Schreinerlehrlingen mühsam und originalgetreu rekonstruiert und anschließend per LKW am Stück hertransportiert. 2010 brannte sie nämlich bis auf einen kleinen Haufen Asche ab, hatte zeit ihrer seit 1857 andauernden Geschichte noch ein rotes Dach. Tatsächlich ganz in Ruhe verbummele ich eine halbe Stunde und ziehe erst weiter, als eine kleine Reisegruppe den Ort überrollt wie eine Herde Islandpferde. Ehe ich mein Zeug im Auto verstaut habe, springt nebenan auch schon wieder der Motor ihres Kleinbusses an.

Farbexplosion

Im flachen Winkel strahlt die goldgelbe Sonne über den Südküstenstreifen hinweg. Der lange Schatten des Dacias fährt mir unaufhaltsam voraus, seit ich auf die 427 ostwärts in Richtung Þorlákshöfn gebogen bin. Die GoPro habe ich natürlich immer noch nicht auf die Motorhaube gepömpelt, möchte keine Zeit verlieren. Aber was heißt hier schon "Zeit verlieren", eigentlich suche ich nur nach einem geeigneten Ort für den nächsten Halt, möchte dafür ein ganzes Stück vorwärts kommen. Der lange Schatten des Dacias ist mittlerweile von den langen Schatten der hinter mir liegenden Berge verschluckt worden. Im Rückspiegel sehe ich, wie sich die blaugraue Wolkendecke breitflächig in ein feuriges Orange verwandelt. Schrägrechts vor mir strahlt der Küstenverlauf am Horizont. Ganz da hinten ist Strandakirkja als weiße Landmarke zu erkennen. Überall lösen sich kleine Regenschauer aus der Wolkendecke. Davor erscheint sanft ein Regenbogen, links von mir spielt der markante Bergrücken sein Licht- und Schattenspiel. Vielleicht ist das ja auch der Ort, nach dem ich suche. Ich lenke den Dacia auf den abschüssigen Seitenstreifen. Auf dem Geröll kommt er schnell zum Stehen. Zur Sicherheit werfe ich die Warnblinker an. Mit Verlassen des Autos versinke ich in der gewaltigen isländischen Traumlandschaft und stapfe vorsichtig über die moosfreien Stellen des Lavafeldes. Das feurige Orange der von unten beleuchteten Wolkendecke löst sich langsam in ein sanftes, fleckiges Rosa auf.

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