Reiseskizzen Korsika 2022

Nur zweimal umsteigen nach Korsika

Wir blicken auf zehntausende kleiner, fader, warmer Lichter, die sich die dunklen Berge hochschlängeln, wie der Efeu an einer Hauswand. Weiter unten sind die Lichter kräftig und kalt. Es ist der 3.6.22 gegen 22 Uhr an Bord der Fähre "Moby Zaza". Wir stehen mit einem italienischen Bier in der Hand auf Deck sieben und schauen dabei zu, wie der Hafen von Genua sich immer weiter entfernt. Er wird nicht kleiner, er entfernt sich nur. Komischer Anblick. Und davor das aufgewirbelte Wasser hinter der Fähre. Wie ein Bildschirmschoner früher: Alles bewegt sich, aber nichts richtig.

Überall mal wieder sieht man Lichtsignale aufleuchten. Das Aufleuchten der roten, grünen und weißen Signale ist unkoordiniert und lässt die ansonsten vollkommen ruhige genuesische Skyline hektisch wirken.

Das Verlassen des Hafens fühlt sich fast wie ein Abschied an. Von Genua selbst, obwohl wir nur wenige, aber eindrucksvolle Stunden dort verbracht haben. Und von den letzten 24 Stunden, die ganz schön intensiv waren. Positiv intensiv.

Das Verlassen des Hafens fühlt sich aber auch wie ein Anfang an. Wie der Anfang der Entdeckungsreise der "Île de Beauté". Insel der Schönheit. Ab jetzt heißt unser nächstes Ziel "Korsika".

Bis zum Erreichen dieses Zieles ist Einiges an Planung eingegangen. Zur Debatte standen mehrere Ziele, Korsika hat es uns aber besonders angetan. Sardinien ist uns sehr positiv in Erinnerung geblieben. Korsika als kleine Schwester war damit die "logische" Konsequenz.

Eine Nachtzugreise suggeriert ein erholtes Ankommen am Zielort, die Ersparnis eines "verschenkten" Reisetages und des anschließenden Hotelaufentalts. Nun haben wir schon einen vollen Anreisetag hinter uns und sind noch nicht am Ende. Ist er verschenkt? Die Frage ist schnell beantwortet: Er gehört bereits zur Reise selbst. Der Weg und das Ziel und Pipapo, jeder hat den Spruch schon einmal gehört.

Aber wenn ich die letzten 24 Stunden auf Farben herunterbrechen sollte, dann wären es genau drei: Weinrot, Kristallblau, Dunkelgrün. Geil, oder? Noch nie ist mir das bei einer Flugreise passiert.

Weinrot

Die Momente vor Reiseantritt werden doch ein wenig hektischer als erwartet. In den letzten Momenten vor dem Feierabend müssen doch noch einige Telefonate geführt werden. Wir arbeiten heute. Geplant war ein verfrühter Feierabend, denn spätestens um 20 Uhr müssen wir abmarschbereit sein. Meine Eltern sind wieder zu Besuch und machen Berlin unsicher. Wir verabschieden uns und freuen uns auf ihre und unsere schöne Zeit.

Berlin verabschiedet uns mit sonnigem Wetter. Es soll zumindest auch die nächste Woche schön werden. Der Nachtzug der ÖBB rollt pünktlich kurz vor neun in den Berliner Hauptbahnhof ein. Zwar vom andern Gleis, aber pünktlich.

Wir haben das erste Abteil im Wagen 312. Es ist ein 6er-Liegeabteil. Auf einer Seite drei Liegen, auf der anderen die oberste Liege. Die beiden unteren sind zu einer Sitzgelegenheit zurechtgeschoben.

Der weinrote Sitzpolsterbezug dominiert die Grundstimmung. Weinrot mit hellgrauen Flecken. Es ist eng für sechs Menschen. Erst recht für sechs unbekannte Menschen. Aber zu zweit geht's. Wir schwadronieren, ob es auch zu viert ginge. Selbst das würde wegen des Stauraums zur Herausforderung werden. Gut, das kommt natürlich auf's Gepäck an.

Es ist nicht ganz sauber im Wagen und es riecht ein wenig unfrisch. Wir machen es uns bequem, trinken einen Urlaubspiccolo, während die brandenburgischen Dörfer an uns vorbeiziehen. Der Zug fährt über Potsdam, Werder, Brandenburg, Magdeburg.

Es ist bereits finster. In Magdeburg sind noch viele Menschen am Bahnhof unterwegs. Der RE 1 steht bereit, Ziel: Ostbahnhof. In Braunschweig packt uns die Müdigkeit und wir machen uns als einige der letzten im Waschraum frisch und bettfertig.

Auf den obersten Liegen machen wir es uns bequem. Trotz Müdigkeit fällt es uns schwer einzuschlafen. Die Lüftung ist laut, es wackelt (na klar, ganz oben am meisten). In den Bahnhöfen, wenn der Zug steht, ist es ganz leise. Man hört nur den Waggonbetreuer seine Runde drehen und die Türen öffnen und schließen. Nebenan ist ein Frauenabteil. Es wird kräftig geschnarcht - durch die Abteilwand nur noch dumpf zu hören, klingt es fast schon beruhigend. Zwischendurch werden wir immer wieder wach. Ich zuletzt in Frankfurt.

Ein warmes, analoges Piepen klingt durch die Lautsprecher. Es ist 5:30 Uhr. Schlaftrunken realisiere ich nicht, dass es sich nicht um den Weckservice handeln kann. Gibt's den überhaupt? Egal. 5 Minuten später fängt es wieder an. Und nochmal. Dann folgende Durchsage:

"Sehr geehrte Fahrgäste! Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten! Aufgrund eines Fahrgastes, der intelligenzbefreit ist und der unbedingt seine Schnürsenkel anzünden musste, müssen wir die Brandmeldeanlage resetten."

Ziemlich rüde Durchsage, aber zugegebenerweise auch ne krasse Aktion. Schnürsenkel... Ausgerechnet Schnürsenkel. Ich sinniere noch über den Mehrwert der Aussage. Und über den der Aktion sowieso. Ich sichere mich bei Teresa ab, dass sie das auch gehört hat. Sie bestätigt, ist aber genervt, weil das ihre einzige gute Schlafphase war.

Ich bin mittlerweile schon hellwach und sitze im unteren "Wohnbereich". In Karlsruhe ist ein großer Rummel aufgebraut. Und am Bahnhof wartet die Bundespolizei. Ob's der "intelligenzbefreite" Schnürsenkeltyp ist oder blinde Passagiere, werde ich nicht erfahren.

Ich beobachte Stadt für Stadt, wie Deutschland in seinen letzten Arbeitstag der Woche startet. Zwischen Rastatt und Baden-Baden wird mir nun auch bewusst, dass wir im Prinzip entlang der französischen Grenze fahren. Ironisch, dass uns keine fünf Kilometer von unserem Zielland trennen, wir aber noch durch zwei weitere Länder müssen, um anzukommen.

Um kurz nach sieben informiert uns der Waggonbetreuer über die Verspätung von 50 Minuten. Wir warten noch etwas mit unserem Frühstück, während wir die Arbeit auf den Erdbeerfeldern zwischen Lahr und Freiburg beobachten. Sonst ist es noch ruhig auf den Äckern und Feldern Baden-Württembergs

Gegen acht dann tauchen wir plötzlich in eine architektonisch komplett andere Welt ein: Basel begrüßt uns gleich mit zwei Halten in der Schweiz. Die Gebäude wirken wie aus einem 70er-Jahre Science-Fiction-Film. Ein bisschen Brutalismus scheint da auch dabei zu sein.

Kristallblau

Der aufgeräumte Eindruck um den Hauptbahnhof von Zürich herum irritiert ein wenig, wenn man direkt aus Berlin kommt. Supermärkte sehen wir hier auch keine, eher Boutiquen, Kaffeeläden und Apotheken. Wir können uns nicht so richtig beantworten, ob wir uns vorstellen könnten hier zu leben. Es wirkt ein wenig wie eine Stadt, wie man sie sich in einer Modellbahnanlage bauen würde. Das ist natürlich nur der allererste Eindruck.

Unsere Reise setzen wir in einem seeeehr langen Stadler-Doppelzug fort. Wir gehen eine kleine Ewigkeit, bis wir am Bahnsteig des langen Kopfbahnhofs unsere reservierten Plätze in Wagen 1 erreichen. Das Piepen vor Öffnen und Schließen der Tür ist dasselbe, wie in den allerneusten Berliner S-Bahnen. Fast schon vertraut. Die Fahrt ab Zürich ist eine kleine Entdeckungsreise. Und der Eindruck aus Zürich bleibt erhalten. Sehr chic, sehr geordnet, fast schon klischeehaft. Je weiter wir in Richtung Alpen fahren, desto stärker dominiert die Natur und natürlich die Berge. Als wir bei Flüelen das Ufer des Vierwaldstättersees entlangfahren, strahlt sein kristallblaues Wasser. Die hübschen Uferpromenaden geben einen fast schon mediterranen Vorgeschmack auf unser Reiseziel, sind sie teilweise sogar mit Palmen bepflanzt.

Dunkelgrün

Quasi im Moment des Verlassens des Gotthard-Basistunnels laufen Rinnsale die Fensterscheiben herab. Von außen zum Glück. Ungefähr im 45-Grad-Winkel. Es regnet in Strömen südlich der Alpen. Zu allererst fällt die sattgrüne, eigentlich dunkelgrüne Landschaft auf. Die Berge, die uns einkesseln, sind beeindruckend. Der Himmel ist grau und über die gesamte Berglandschaft legen sich stellenweise hellgraue Nebelschleier. Oder tiefhängende Wolken - Kachelmann könnte korrigieren, aber den haben wir auf der anderen Seite der Alpen gelassen.

Komischerweise spielte sich selbige Szene in all den seltenen Fällen ab (naja, genau zweimal), in denen ich nach Norditalien reingefahren bin: dunkelgrüne Landschaft.

Das Grau der großen norditalienischen Industriegebiete mit beeindruckenden Stahlkonstruktionen, das Beige der Wohngebäude geben dem Ganzen einen noch ungewohnteren Touch. Die Durchsagen machen mehrfach darauf aufmerksam, dass in Italien Maskenpflicht im Zug herrscht. Kurz hinter Bellinzona kommt der Zoll und kontrolliert stichprobenartig.

Mailand wirkt vom Zug aus gesehen sehr einfach und heruntergekommen, fast verwildert. Der erster Eindruck, wie man ihn von einer Stadt wie ihr so gar nicht erwartet.

Auf eine Pizza und zwei Bier in Genua

Wir durchfahren die Po-Ebene. Aktuell ist der Po eher ein schmales Flüsschen. Die große Brücke wirkt überdimensioniert. Es dauert nicht mehr lange, da nähern wir uns schon Genua. Dicht aufeinanderfolgende Tunnel bringen uns durch die bergige Landschaft. Je näher wir kommen, desto interessanter die in Hanglage gebauten Stadtteile. Wir rollen ein: "Genova Piazza Principe". Ein Bilderbuchbahnhof, wie man ihn italienischer nicht malen könnte. Alte Häuser thronen auf den Hügeln über dem Bahnhof. Es herrscht rege Betriebsamkeit und doch strahlt er mediterrane Ruhe aus.

Wir lassen unser schweres Gepäck in der Gepäckaufbewahrung. Einige Stunden haben wir Zeit, durch die Gassen zu spazieren, eine Pizza und zwei Bier zu trinken. Ichnusa, das sardische Bier scheint uns am passendsten. Wir sind absolut beeindruckt und freuen uns auf ein wenig mehr Zeit hier auf der Rückreise.

Schwer bepackt begeben wir uns gegen 19:30 Uhr in Richtung Fährterminal. Nicht so einfach, ist die Hafenanlage so riesig und die Wegführung eher auf Autos ausgelegt, als auf Fußgänger.

Irgendwann dann, kurz vor 21 Uhr, stehen wir vor dem riesigen Bauch der Fähre. Sie ist mit den Looney Tunes beklebt. Das scheint ein Markenzeichen der Moby-Linie zu sein. Es ist unwahrscheinlich laut, wenn die Autos über die stählernen Schwellen fahren und wir auf den Fahrstuhl warten. Kinder fangen wegen des Lärms an zu weinen, es ist heiß. Die mindestens 20 Minuten Fahrstuhlwarterei inmitten von Abgasen und Lärm sind für alle hier anstrengend.

Wir laufen einem Rucksacktouristen hinterher, der einen "geheimen" Aufgang entdeckt hat, das Treppenhaus. Keine zehn Minuten später sind wir eingecheckt und stehen in unserer Kabine. Vielleicht 8 Quadratmeter inklusive Bad. Die Matratzen sind bequem, Dusche und Toilette vorhanden.

Deck 7. Die Abfahrt wird sich noch einiges herauszögern. Wir schauen anderen Fähren beim Ablegen zu. Langsam lichtet sich das Fährterminal. Dicke, schwarze Rauchschwaden steigen aus den Schornsteinen, während es bereits dämmert.

Um etwa 22 Uhr legen wir ab. Die Hafengebäude bewegen sich ganz langsam an uns vorbei. Der Mond scheint durch den dunstigen Himmel. Die Berge von Genua werden zu einer Ansammlung aus kleinen, faden, warmen Lichtern.

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Korsika ist nicht französisch