Der Wecker klingelt erfreulich sanft um 5:30 Uhr. Draußen ist es schon hell, ich kann durch das Bullauge ganz blass die Konturen der korsischen Berge erkennen: dunkles Milchigblau auf etwas hellerem Milchigblau. Ich sehe gerade das nördliche Ende vom Cap Corse, also den nördlichste Zipfel der Insel. In dieser Hinsicht ist das natürlich perfektes Timing. Während Teresa als erste die langersehnte Dusche im Einquadratmeterbad benutzt, beginne ich damit, die Kabelage einzupacken und meine Klamotten für heute herauszulegen.
Währenddessen weisen die Durchsagen die Passagiere viersprachig und im Akkord auf den Beginn der Anlegeprozedur hin. Alle mögen sich bitte fertig machen, die Zimmer räumen und bloß nichts vergessen. Erst recht nicht die Schlüsselkartenrückgabe, sofern eine Kabine gebucht war. Eine halbe Stunde später sind wir schon bereit, uns mitsamt allen unseren Sachen auf Deck 7 zu begeben. Die vielen Leute, die wir gestern Abend noch in Schlafsäcken haben liegen sehen, haben mittlerweile ihre Sachen gepackt. Man kann sich einbilden, dass man erholte von weniger erholten Gesichtern unterscheiden kann.
Viersprachig nun die Info, dass das Selbstbedienungsrestaurant geöffnet habe, dort könne man sich mit Frühstück versorgen. Derartige Durchsagen gab es gestern im Akkord: Das Selbstbedienungsrestaurant hat geöffnet, Aperol Spritz und Sekt an Deck, das SB-Restaurant schließt, das Pizzarestaurant öffnet für den späten Snack. Immer dekoriert mit einem "Attention, s'il vous plaît!".
Das Deck 7 ist in der kurzen Zeit an Bord zu unserem Lieblingsort an Deck geworden. Dort liegt man im Windschatten der Fähre, es ist ruhig und man hat einen super Ausblick. Es ist noch ungewohnt für uns, wie warm und angenehm es draußen so früh morgens sein kann. Das dachte sich sicherlich auch das ältere Paar, das es sich schon gestern mit ihrer Decke und Wein gemütlich gemacht hat. Sie sitzen wieder hier. Diesmal ohne Wein. Ich bin der Meinung, sie müssen dort übernachtet haben. Teresa hält dagegen: Das sei bestimmt ein älteres Camperehepaar, das schon dutzende Male auf Korsika gewesen sei. Die hätten sicherlich auch eine Kabine. Bloß wären sie so ausgefuchst, dass sie die ganzen ollen Campertricks draufhaben, wie man es sich am besten gemütlich macht. Klingt auch plausibel.
Der Himmel ist teils milchigblau und geht im Südwesten fließend in das ruhige Meer über und die Umrisse der Insel über.
Die Insel versinkt noch im Dunst. Die Sonne versucht sich im Osten durch den dichten Nebel zu kämpfen. Sie ist eher ein großer, diffuser Ball, der immer mal durchblitzt, während der Himmel immer fleckiger wird und sogar hellblaue Stellen aufweist.
So erholt wie wir heute sind und so angenehm der Morgen beginnt, so bereit sind wir auf das, was uns heute erwartet. Die absolut ruhige und erholsame Nacht haben wir nicht zuletzt auch der sanften See zu verdanken.Kein bisschen Reisemüdigkeit, das sind ziemlich gute Voraussetzungen!
Immer mehr Menschen versammeln sich auf dem Achterdeck. Viele Familien mit Kindern. Nicht überraschend sind die Nationalitäten, die vertreten zu sein scheinen: Schweizer, Deutsche, Franzosen und Italiener.
Mit jeder Seemeile bekommt die Sonne spürbar mehr Durchsetzungskraft gegen die Wolken und den Nebel. Immer mehr der grünen, zerklüfteten Landschaft Korsikas wird sichtbar. Man sieht Siedlungen. Das Grün beginnt sich langsam von den ockerbraunen Felsen abzusetzen. Und langsam kommt auch Bewegung ins Spiel der Besatzung. In schicker Uniform gekleidete Crewmitglieder haben es sich schon seit einiger Zeit an Deck bequem gemacht, quatschen miteinander und rauchen Zigarette. Jetzt kommen die Arbeiter in Warnwesten und beginnen damit, die Schiffstaue zurechtzulegen.
Das da in der Ferne muss Bastia sein, deutlich dichter besiedelt als alles, was wir bislang gesehen haben. Und große Schiffe verraten uns die Lage unseres Zielortes: den Hafen der mit knapp 50.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt der Insel.
Der "Pilote", also der Lotse, wird in einem genauso flinken Manöver an Bord gebracht, wie das auch gestern schon in Genua der Fall war. Das Lotsenboot steuert bereits auf die nachfolgende Fähre zu. Die liegt einige Seemeilen hinter uns und fährt genau durch unsere sich bräunlich vom Hintergrund abhebende Abgasspur durch. Fähre fahren ist eigentlich eine ziemlich dreckige Angelegenheit. Das haben wir gestern sehr deutlich gesehen. Und die 200 kg CO2, die wir allein aufgrund der Nachtzugfahrt gegenüber dem PKW eingespart haben, sollten hier mit ziemlicher Sicherheit wieder kompensiert sein. Und wenn nicht dass, dann ist mindestens unsere Feinstaubbilanz hinüber.
Beinahe zehn Stunden lang hat das Schiff bereits eine lange Schleppe sprudelnden Wassers hinter sich hergezogen. An der Schiffsseite leuchtet das Wasser in erfrischendem Hellblau. Während wir unsere Fahrt verlangsamen, wird die Geschäftigkeit der Besatzung immer größer. Immer mehr Menschen versammeln sich an Deck, viele Kinder wollen sich das Anlegespektakel anschauen.
Mittlerweile ist Bastia in greifbarer Nähe. Wir sehen den Leuchtturm, die Zitadelle und die Details der vielen schönen historischen Gebäude.
An der Hafenmauer prangt gut sichtbar der Schriftzug "Corsica is not French". "Korsika ist nicht französisch." Die meisten Korsen haben ein stark ausgeprägtes Nationalgefühl. Und zwar nicht das französische. Unabhängigkeitsbestrebungen gibt es immer wieder und historisch gesehen schwankte Korsika zwischen italienischer und französischer Herrschaft und der Unabhängigkeit. So werden wir bereits hier im Hafen - beim ersten Blick auf die Altstadt von Bastia - mit einem mahnenden und selbstbewussten Statement begrüßt.
Ganz langsam nähert sich die Fähre rückwärts dem Pier. Von den Arbeitern wird an den dicken Tauen gezerrt, gezuppelt und gestritten. Sie genießen aber auch sichtlich die Aufmerksamkeit, die sich auf sich ziehen. Prominentester Gast dürfte Daffy Duck sein, der als Maskottchen immer wachsamen Auges mitfährt.
Es steht ein Bus bereit, viele LKW sind zu sehen. Als das Schiff langsam auf den Tender aufläuft, kommt Bewegung ins Spiel. Viele Menschen haben sich schon während des Schauspiels in ihre Autos oder Reisebusse begeben. Wir Fußgänger sind in der deutlichen Minderheit. Langsam bahnen wir uns den Weg durch das Treppenhaus zum Autodeck. Zwischen dem lauten und hektischen Treiben versuchen wir uns durch die Blechlawine zu wurschteln. Die Busfahrerin winkt uns heran - kurz darauf stehen wir schon auf der Promenade Bastias. Knapp 36 Stunden nach Abfahrt legen wir unser schweres Gepäck in der Aufbewahrung des "Best Western Montecristo" ab.