Wortlos sitzen wir uns unterm Maulbeerbaum gegenüber. Kurz darauf, bei offenem Verdeck auf der Autobahn T11, schmettern wir lauthals den Refrain von "Paroles, Paroles" mit. So laut, dass wir den Fahrtwind nicht mehr hören. Wechselhaft, zwischen ganz still und ganz laut, kündigt sich das Ende der motorisierten Etappe unserer Reise an.
Das heutige Frühstück nehmen wir im Außenbereich eines kleinen Cafés zu uns: Typisch französisch wieder, fast ohne, dass wir auffallen müssten. Wir möchten die öffentliche Ordnung nicht stören. Eine Herausforderung haben wir doch parat: Teresa würde gerne ihr Schüsselchen Marmelade gegen Nutella eintauschen. Das bringt die Inhaberin nur kurz aus dem Konzept: Ob es denn auch der Schokoaufstrich für die Crèpes sein dürfte, fragt sie. Das Café scheint ein kleiner Treffpunkt Einheimischer zu sein: Drei ältere Damen sitzen redselig am Nebentisch. Immer mal stößt eine weitere für einen kurzen Plausch dazu und geht wieder. Am anderen Nachbartisch sitzen zwei Studentinnen. Sie scheinen sich am Laptop auf irgendetwas vorzubereiten. Der Kellner ist wenig motiviert. Das Glas Orangensaft, das er gerade noch auf dem Gehweg verschüttet hat, übergießt er halbherzig mit einem Glas Wasser und setzt sich wieder mit starrem Blick auf den Barhocker am Eingang. Es ist ein ehrlicher Laden mit einem ehrlichen Frühstück. Die Knutschkugel ist startklar, der erste Halt jedoch nicht weit entfernt. Wir haben lange Zeit mit dem Gedanken gespielt, die berühmte korsische Eisenbahn für eine Teilstrecke zu nehmen. Leider bekommen wir das auf dieser Reise nicht unter. Dennoch möchten wir einen kurzen Blick auf den Bahnhof werfen. Er ist unscheinbar und versprüht doch irgendetwas Abenteuerliches. Wir nehmen es als Vorgeschmack für die nächste Reise mit. Jetzt haben wir uns als Ziel gesetzt, an die Ostküste zu fahren. Grob in die Richtung von Aléria. Wieder einmal wissen wir nicht, was uns dort erwartet. Wir provozieren es: Der Tag schreit förmlich nach Überraschung.
Die schier endlose, gerade Ausfahrtstraße aus Corte in Richtung Osten erlaubt größtenteils satte 80 Stundenkilometer. Es ist ein unfassbares Tempo nach den vielen Phasen der Entschleunigung. Fast ein wenig zu schnell. Die Straße windet sich schließlich etwa 50 Kilometer durch ein Tal, grob dem Flusslauf des Tavignano folgend. Es ist keine spektakuläre Strecke. Eher eine, die man für Gespräche nutzt. Das tun wir natürlich. Erst über dies und das. Dann, je näher wir der Ostküste kommen, auch über unsere Pläne für den Rest des Tages. Wir sind uns schnell einig, dass wir spontan schauen, wo es uns gefällt und an diesem Ort einfach ein wenig Zeit verbringen. Der östliche, flache Teil der Insel ist für uns noch Neuland. Wir haben ihn bewusst in der Reiseplanung ausgeschlossen, möchten zumindest aber einen ersten Eindruck erhalten. Schließlich kündigt sich Aléria an. Wir stehen nun vor der Entscheidung, nord- oder südwärts zu fahren. Nordwärts kämen wir Stück um Stück dem Flughafen näher. Südwärts scheint daher die richtigere Entscheidung zu sein: Ein klitzekleines Stückchen weiter weg vom Flughafen. Kurz darauf das Schild, das auf eine Site Antique hinweist: Bingo, ein wenig Geschichte tut uns gut! Warum nicht einfach mal vorbeischauen? Der Parkplatz ist gut besucht - ganz offensichtlich handelt es sich um sehr bekannte Attraktion Alérias.
Der Fußweg oberhalb des Parkplatzes führt uns in das Innere des Fort Matra, einer alten genuesischen Festung. Das Fort beherbergt ein Museum, das Musée Départemental Jérôme Carcopino d’Aléria. Der Monsieur am Empfang weist uns darauf hin, dass die Tickets für das Museum auch für die angrenzende Ausgrabungsstätte gültig sind. Für unter zehn Euro Eintritt für uns beide ahnen wir noch nicht so recht, was uns alles erwarten wird. Die beeindruckenden Vitrinen des Museums entlangschlendernd, erhalten wir wortwörtlich atemberaubende Einblicke in die Zeit der Etrusker, der Griechen und der Römer hier vor Ort. Zum überwiegenden Teil sind die Stücke unglaublich gut erhalten: Trinkgefäße, filigran gearbeiteter Schmuck, Grabbeigaben, kunstvoll bemalte Teller und Vasen, Münzen, Schwerter und Dolche. Das Ganze wird multimedial umrahmt von Beamerinstallationen, Dokumentationen und Videos von den Ausgrabungen exakt der Stücke, deren Zeugen wir gerade werden. Teilweise erhält man den Eindruck, als wäre es unmöglich, dass die Stücke eine so lange Zeit so unversehrt überstanden haben. Viele davon haben einen auch mit heutigem Blick wahnsinnig ästhetischen Wert. Selten habe ich Museen erlebt, die die Lokalgeschichte so greifbar präsentieren, und das auch noch an so einem schönen historischen Ort. Hinter dem Fort führt ein kleiner Feldweg entlang. Er ist eingezäunt. Von hier schweift unser Blick über den großzügigen, flachen Streifen der östlichen Insel, der abrupt wieder in eine satte Berglandschaft übergeht. Im Vordergrund der Blick auf das halbgefüllte Flussbett des Tavignano. Einige Paddler arbeiten sich den Flusslauf hinauf. Die Landschaft um das bröckelnde Flussbett herum wirkt ein wenig wie mein landschaftliches Klischee Indiens. In die andere Richtung blicken wir zurück auf das Fort mit der Ostküste und dem Meer im Hintergrund. Am Ende des Feldwegs ist der Zugang zu einem großen Feld. Ein freundlicher Herr kontrolliert auf einem Plastikstuhl sitzend beiläufig unsere Tickets, während wir uns plötzlich inmitten einer prachtvollen Allee wiederfinden. Jenseits der Allee ist das Feld übersät mit den Überbleibseln der Zivilisation vergangener Jahrtausende: Steinsäulen, Brunnen, Überreste ganzer Gebäudestrukturen. Dazwischen überlebensgroße Statuen. Sie sind allerdings nicht historisch, sondern jüngst von verschiedenen Künstlern gefertigt. Trotzdem fügen sie sich hier sehr gut in die Stimmung ein. Auf einer Karte ist die Struktur der Stadt skizziert: Geschäfte, Bäder, Tempel, Apotheken, mit ein wenig Fantasie kann man sich hier fast ausmalen, wie geschäftig es hier einst zugegangen sein muss. Wir lassen uns Zeit, lassen alles in Ruhe auf uns wirken. Es ist spannend, immer wieder an einer anderen Ecke der Stadt zu stehen und das Kopfkino in Gang zu setzen. Die wenigsten Besucher scheinen von der Ausstellung noch den Weg zu der Ausgrabungsstätte zu nehmen. Wir fragen uns, wie vieles hier noch so im Verborgenen liegt, für weitere Jahrhunderte oder Jahrtausende gut konserviert im korsischen Boden. Dann langsam geht's wieder zurück für uns über den Feldweg am Fort vorbei in Richtung Parkplatz. Wir erkennen aus der Ferne bereits, dass der vorher prallgefüllte Parkplatz fast wie leergefegt ist.
Die heiße Luft muss zunächst raus aus der Knutschkugel. Jetzt ist es besonders schlimm. Die heiße Luft flimmert über dem staubigen Boden. Mit offenem Verdeck setzen wir uns, eine kleine Staubwolke hinter uns aufwirbelnd, langsam in Bewegung. Die Playlist, die uns die vielen schönen Tage über begleitet hat, setzt wie gewohnt ein. Als unsere Reifen auf den glatten Asphalt der Küstenstraße T10 aufsetzen, muss ich Vollgas geben um mich in den Querverkehr einzuordnen. Die 80 werden hier nicht so genau genommen. Knappe weitere fünf Stunden stehen uns zur Verfügung, bis wir den Flughafen erreichen müssen. Nur noch weitere 50 Kilometer trennen uns davon. Wir nehmen uns vor, nach einer schönen Gelegenheit für eine Rast Ausschau zu halten. Thematisch haben wir uns noch überhaupt nicht festgelegt. Kilometer um Kilometer rauschen Landschaft und Siedlungen an uns vorbei. Hier in der östlichen Ebene der Insel ist ungewohnt viel Platz. Das Auge muss sich erst an die vielen bunten Schilder entlang der Straße, die Hotels und Motels und Raststätten, Werbetafeln und den Querverkehr gewöhnen. Immer wieder gibt es längere Landschaftspassagen, in denen vereinzelt mal Kiesweg zu einem Campingplatz abgeht. Als sich eine beachtliche Schlange hinter uns bilder - ich halte mich im Gegensatz zu den meisten anderen Verkehrsteilnehmern an die Geschwindigkeitsbegrenzung - fahre ich kurz rechts ran. Wir möchten uns nochmal orientieren. Die nächste Siedlung mit dem klingenden Namen Santa-Lucia-di-Moriani soll's werden. Es scheint ein größerer Zusammenschluss mehrerer Siedlungen zu sein. Kurz hinter dem Kreisverkehr verlassen wir die Straße und parken auf einem großen Parkplatz. Hier gibt es eine kleine Strandpromenade - zumindest ein Eis sollte doch drin sein. Große, bauchige Wellenbrecher aus Beton ragen über den Kieselstrand hinaus ins Meer. Es verteilen sich einige Strandcafés entlang der Promenade. Nur eines ist bis auf fast den letzten Platz belegt. Die Karten der Etablissements ähneln sich. Wir entscheiden uns für das gut gefüllte - das mit den bequemen Sitzen unterm Maulbeerbaum. Er trägt große, saftige, rote Früchte, die an eine Mischung aus Himbeeren und Erdbeeren erinnern. Uns wird ein schöner Platz direkt in Strandnähe angeboten. Teresa erfüllt sich den Wunsch eines Tiramisus, ich verfalle der Verlockung eines saftigen Burgers.
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Hier lässt es sich aushalten. Wir müssen uns gar nicht viel unterhalten. Wahrscheinlich geht uns dasselbe durch den Kopf. In einigen Kilometern werden wir das Auto volltanken und den gröbsten Schmutz im Fahrzeuginneren beseitigen. Kurz vor dem Flughafen wird die Küstenstraße T10 zur Autobahn T11. Hier geben wir nochmal Stoff. Ein letztes Mal trällert Dalida im Duett mit Alain Delon das bekannte Lied "Paroles, Paroles". Wir gröhlen den Refrain mit, wie wir es schon die letzten Male gemacht haben. Dann geht alles sehr schnell: Ausfahrt, Kreisverkehr, scharf rechts und ehe wir uns versehen, stehen wir bei der Autovermietung auf dem Hof. Der Mann von der Autovermietung checkt das Übliche, während wir unser Gepäck auf dem Parkplatz stapeln. Es ist, als würde man einen guten, langjährigen Freund einfach so in der Pampa zurücklassen. "C'est bien", sagt der Mann. Unbeeindruckt zieht er mit Schlüssel und Papieren ab in die dunklen Hallen der Fahrzeugaufbereitung. Wir dagegen schultern alles an Hab und Gut, das wir dabeihaben und stapfen in Richtung Ankunftshalle des Flughafens. Die bequemste Option wäre es, die Navette in Richtung Bastia zu nehmen. Der Fahrplan ist unübersichtlich, die anderen Optionen sind teuer oder mehr als umständlich. An der Information erzählt man uns, dass wir knapp zwei Stunden warten müssten. Wir wissen die Zeit zu überbrücken: Mit einer Karaffe Wein in der Ankunftshalle und einige Postkarten schreibend.