Die letzte Wanderung! Wehmut und Erleichterung haben noch nicht ausgehandelt, wer gewinnt. Sie haben es nicht einfach, denn sie verhandeln stumm. Aktuell schreit noch die dritte Emotion im Bunde: die Freude. Wir wollten viel erwandern, wir haben viel erwandert. Und auch, wenn wir hier noch sicherlich einige Gelegenheiten haben werden, zu Fuß neue Orte zu erkunden, bricht heute der erste Meilenstein an, der das Ende der Reise einleitet.
Bevor wir überhaupt einen Fuß vor die Tür setzen, genießen wir den wundervollen Morgen von unserem Zimmer aus. Vor den offenen Fenstern flattern die schweren Vorhänge im Wind. Nur der sommerliche Gesang der Schwalben dringt hinein. Es ist kurz nach sieben. Vorhin war die Müllabfuhr da und hat die träge morgendliche Stille und den Schwalbengesang unsanft durchbrochen. Sie ist mittlerweile über alle Berge. Die Sonne wirft wieder lange Schatten. Die Luft ist diesig, die Bergspitzen verschwinden im Gegenlicht der Sonne im Dunst. Von Minute zu Minute wird das Getucker vom Cours Paoli ein kleines bisschen mehr, während die Kaffeemaschine vor sich hinblubbert. Duschen, fertigmachen, ab zum petit déjeuner. Wir setzen uns gegenüber ins Café. Die Bedienung schaut mich ungläubig an, als ich zwei herzhafte Brötchen und zwei Kaffee bestelle. Ja, wir wissen's mittlerweile besser. Aber heute müssen wir funktionieren. Das geht leider mit einem Croissant und ein bisschen Marmelade nicht. Nach zwei Jahren französischer Sozialisierung können wir gerne noch einmal darüber reden. Wir wurden mit Schinkenbrötchen sozialisiert. Und das ist Mindeste, das uns bis zum frühen Nachmittag auf den Beinen halten soll. Eine andere Bedienung kommt zu uns an den Tisch, mustert uns schelmisch, als sie die bestellten Waren auf unser Tischchen stellt. Ihr Blick verrät: "Das sind also die Freaks, die sich morgens ein Schinkenbrötchen reinhauen."
Wohlgenährt und voller Tatendrang erreichen wir unsere kleine Knutschkugel. Sie steht immer noch einsam, aber unversehrt an der verkohlten Böschung. Aus Jux legen wir uns bereits eine Ausrede zurecht, sollte die Ausfahrt dann doch nur durch eine Schranke möglich sein. Aber das geht ganz unkompliziert. Knapp 17 Kilometer entlang des Gorges de la Restonica, des Restonicatals, liegen nun vor uns. Immer mit einer leichten Steigung bergauf bis auf knapp über 1300 Meter. Wir sind froh, nicht in der Hauptsaison unterwegs zu sein. Die Straße ist zum überwiegenden Teil nur einspurig und in den Kurven in der Regel knifflig. Es gibt einige Ausweichpunkte, aber die liegen weit auseinander. Aus diesem Grund ist die Straße in der Hauptsaison morgens nur in die eine Richtung und nachmittags nur in die andere Richtung freigegeben. Zum Glück bleibt uns das erspart und mit dem wenigen Gegenverkehr werden wir uns immer einig. Je weiter oben wir sind, desto mehr Autos stehen bereits am Straßenrand. Kleine Parkplätze kündigen Einstiegspunkte für Wanderungen an. Wir möchten so nah wie möglich an die Bergerie de Grotelle herankommen, den höchstmöglichen Einstiegspunkt, der per Auto erreichbar ist. Zwei Kilometer vorher werden wir bereits angehalten und bekommen für sieben Euro eine Plakette an die Windschutzscheibe geklebt. Zusammen mit der Anweisung, dass uns weiter oben jemand einweisen wird. Tatsächlich warten zwei dynamische junge Franzosen, die präzise vormachen, wie wir hier rückwärts einzuparken haben. Effizient und mit messerscharfem Blick, dass man nirgends hängen bleibt, während sie bereits das nächste Fahrzeug heranwinken. Mit größerem Auto hätten wir viel weiter unten auf dem Parkplatz parken müssen. So sind es nur wenige hundert Meter zu Fuß, bis wir das Hochtal in seiner vollen Pracht erstrahlen sehen.
Die Luft ist immer noch dunstverhangen, obwohl die Sonne schon eine gewaltige Kraft hat. Das Tosen des beeindruckenden Wasserfalls, der sich seinen Weg entlang der Felskaskaden sucht, wird im Augenblick durch das monotone Wummern eines in der Luft stehenden Hubschraubers verschluckt. Immer mal wieder zieht in einer steilen Kurve über unsere Köpfe hinweg, verschwindet hinter der Bergkette und verstummt. Die Berghänge sind gras- und moosbewachsen. Zusammen mit den Nadelbäumen zeichnet sich das satte Grün der Vegetation von dem fleckigen Graubraun der erodierten Felsen ab. Nebenan ist eine Kuh- und Pferdeweide. Auf der gegenüberliegenden Seite des Weges liegt die Bergerie de Grotelle. Es ist ein kleiner, spartanischer Bauernhof. Aus Felsmaterial und simplen Rohstoffen erbaut, dient er den Inhabern Claire und Jean Paul als kleines Refugium. Hier werden typisch korsische Naturprodukte verkauft. Auch zum Vor-Ort-Verzehr für alles andere, als einen Wucherpreis. Der Hubschrauber fliegt wieder über unsere Köpfe hinweg, setzt kurz hinter der Bergerie auf und fliegt gleich darauf davon. Wir würden zu gern wissen, um was es sich bei diesem Manöver handelt.
Wir fühlen uns gestärkt genug und treten gleich die geplante Wanderung an. Es sind mittlerweile viele Menschen unterwegs und wir haben große Mühe, nicht in einem Pulk mitzulaufen. Die Grüppchen sind bereits zu Anfang stark in die Länge gezogen. Wieder sind alle möglichen Altersgruppen, Nationalitäten und Körperformen vertreten. Wir würden uns wahrscheinlich knallhart im Mittelfeld einordnen, was das Lauftempo angeht, freunden uns also mit ständiger Begleitung schnell an. Es geht weniger darum, den Abstand zu den Leuten zu suchen, als nicht ständig beim Fotografieren im Weg herumzustehen. Die Wanderung ist zu Beginn sehr angenehm und wir machen schnell Strecke. Es fällt schwer, nicht mit den Augen auf dem holprigen Boden zu kleben. Die vielen Pausen sind weniger der Erschöpfung als der Ergötzung geschuldet. Links von uns taucht eine malerische Badegumpe auf, die von vielen Wanderern dankend angenommen wird.
Bei den vielen Menschen ist der Wanderweg immer leicht erkennbar. Wir machen uns keinen großen Kopf darum. Ab und zu landen wir mit dieser Einstellung dann doch tiefer im Dickicht, als uns lieb ist. Natürlich finden wir immer wieder zügig zurück. Als sich der Weg gabelt, entscheiden wir uns für den steileren Aufstieg links am jungen Restonica entlang. Die zu besteigenden Felsbrocken größer, das Höhenprofil zieht zügig an. Die Rentnergruppe, die uns schon seit einigen hundert Metern an den Fersen klebt, sticht uns gnadenlos aus. Einer davon, scheinbar der Wanderführer, klebt wiederum unentwegt telefonierend an seinem Handy. Touché. Jetzt legen wir eine kurze Regenerationspause ein, wir geben nach. Aber es sind nur noch wenige Dutzend Höhenmeter. Oben angekommen, erwartet der fast kreisrunde, malerische Lac de Melo. Inmitten der ihn umgebenden Gestrüpp-Felslandschaft sind Trampelpfade ausgetreten. Das Ufer des Sees ist von dichterem Gestrüpp umgeben. Der Lac de Melo ist knapp 20 Meter tief und den Großteil des Jahres zugefroren. Kaum vorstellbar, wenn man ihn jetzt so sieht. Ameisen laufen fleißig im Gänsemarsch ihre eigenen Trampelpfade entlang. Rings um den See sieht man kleine, bunte Farbkleckse sich bewegen. Die Wanderer verteilen sich hier großzügig. Die Farbkleckse schnüren sich zu einer bunten Perlenkette entlang des Felsmassivs noch weiter empor: Ihr Ziel ist der höher gelegene Capitello-See. Für die angesetzte Stunde hier hoch haben wir anderthalb gebraucht. Eine weitere müsste man zum Capitello ansetzen. Wir haben genug und geben uns mit diesem Ruhe spendenden Anblick zufrieden. Wir suchen und einige hundert Meter weiter zwei flache Felsen und legen uns erst einmal hin. Mit Blick in den blauen Himmel und mit einer freundlichen Brise um die Nase lässt es sich hier gut aushalten. Mir fallen die Augen zu. Dieser Ort ist auch berüchtigt für die zutraulichen, gar frechen Alpendohlen. Diese freundlichen, schwarzen Vögel wissen ganz genau, wie sie Wanderer um den Finger wickeln und sie davon überzeugen, mit ihnen ihre Verpflegung zu teilen. Eine interessante Symbiose. Mir fällt auf, dass mich dieser Ort stark an Polen erinnert. In der Hohen Tatra, ganz in der Nähe von Zakopane, gibt es einen malerischen See, das "Meerauge". Knapp oberhalb davon gibt es einen weiteren, kleineren aber ebenso fast kreisrunden See, der große Ähnlichkeit mit dem Melo hat: den "Czarny Staw pod Rysami". Übersetzt klingt er nicht ganz so poetisch, wie sein korsisches Pendant: der "Schwarze See unterhalb der Meeraugspitze". Aber wenn es Seepartnerschaften gäbe, dann wäre das ein Volltreffer! Naja, was einem so durch den Kopf geht, wenn Körper und Schaltzentrale kurz zur Ruhe kommen...
Wir verbringen eine knappe Stunde am Melo. Ich könnte hier noch eine weitere verbringen. Wohlwissend, dass die Motivation für den Abstieg dadurch nicht größer würde. Diesmal nehmen wir den vermeintlich für den Abstieg besser geeigneten Weg auf der anderen Restonicaseite. Ja, der Abstieg ist deutlich flacher, eher auf Strecke ausgelegt. Es fällt aber sofort auf, dass die Schuhe deutlich weniger halt haben. Man muss schon sehr aufpassen, nicht auf den glatten, großen Felsen abzurutschen. Und das schon im trockenen Zustand. Eine kleine Kletterpartie ist auch dabei. Zunächst über eine steile, schmale Leiter. An einer besonders schrägen, glatten Stelle dahinter sind lange Stahlketten im Fels verankert. Man muss sich hier mit dem ganzen Gewicht ins Seil legen und dann, ähnlich wie an einer Kletterwand, unter strammem Zug von der Wand abstoßen. Damit haben wir nicht gerechnet. Und ich kann mir vorstellen, dass dieses Stück einigen Menschen Schwierigkeiten bereitet. Wie gewohnt, zieht sich der Weg bergab in die Länge. Wir machen gut Strecke, kommen aber trotzdem kaum vorwärts. An der Gabelung, an der beide Wege wieder zusammenführen, können wir uns wieder orientieren. Immer wieder überholen uns Wanderer fast rennend und von Stein zu Stein hüpfend. Manch einer verfehlt einen davon und drosselt dann sein Tempo. Ganz anders bei einem Pärchen, das wir vor gut zehn Minuten haben gemütlich vorbeiziehen lassen. Sie hockt nun vor uns auf einem der Steine und hält sich den Oberschenkel fest. Eine ältere Französin fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich verstehe das Wort französische Wort für Krampf. Hoffentlich wird der sich schnell legen. Einige hundert Meter noch und wir sind am Ziel. Viele der Wanderer machen eine kleine Rast an der Bergerie de Melo. Sie liegt knapp oberhalb der Bergerie de Grotelle und lädt mit gemütlichen Holzbänken zum Verweilen ein. Teresa bestellt sich ein Sandwich, ich ein Panino. Dazu zwei Limonaden. Alles zu absolut vernünftigen Preisen. Selbst das Bier wäre günstiger als in der Innenstadt Cortes. Dieser kleine Imbiss wird offensichtlich von den Bergrettern betrieben. Alles recht unorganisiert, aber sehr herzlich. Es dauert ein wenig, bis uns das bestellte Essen an den Tisch gebracht wird. Ein wenig neidisch blicke ich Teresas Holzbrettchen an: Darauf ein riesiges, dunkles Brötchen, belegt mit vielen dünnen Scheiben Schinken. Ich bin mir fast sicher, dass ich gleich in die Rolle einer Alpendohle springen darf. Vielleicht weniger aufdringlich. Plötzlich bricht Hektik aus und drei der Bergretter schultern ihr Equipment und laufen strammen Schrittes den Weg hoch, den wir gerade heruntergekommen sind. Wir haben eine böse Vorahnung. Als sie zehn Minuten später mit der Wanderin auf dem Rücken, die mit dem vermeintlichen Krampf, zurückkommen, machen wir Platz. Sie wird längs auf die Bank gelegt. Ein kurzes, klärendes Gespräch und beruhigende Worte später einigen sich die Bergretter mit ihr darauf, den Krankenwagen zu rufen. Eine knappe Viertelstunde später ist die Sirene in der Ferne zu hören, kurz darauf sind sie da. Es ist uns ein Rätsel, wie man diese lange, kurvige Strecke in dieser kurzen Zeit zurücklegen kann. Zwischen Schock und Faszination wird der Vorgang von den Touristen gemustert. Ganz besonders fällt ein deutsches Pärchen auf, das sich für einen besseren Blick noch einmal umsetzt. Eine unangenehme Situation. Genauso schnell, wie Rettungskräfte aufgetaucht sind, machen sie sich mit der Wanderin auf den Rückweg ins Krankenhaus nach Corte. An ihrer Stelle hätte hier jeder von uns sein können. Wahrscheinlich brauchte es dazu nicht einmal einen kurzzeitigen Anfall von Übermut. Bewegt und erleichtert nehmen wir dieses abschließende, mahnende Ereignis unserer letzten Wanderung zur Kenntnis. Offensichtlich dominiert jetzt die Erleichterung über die Wehmut.
Es bildet sich eine kleine Kolonne auf dem Rückweg durch das gewundene Restonicatal. Es brechen aktuell viele Besucher auf. Und trotzdem kommen uns ebenso viele Fahrzeuge entgegen, das Ausweichen ist deutlich kniffliger als auf dem Hinweg. Trotzdem läuft alles entspannt und geordnet. In der Unterkunft angekommen schmeißen wir eine letzte Wäsche in die Maschine und verbummeln ein wenig Zeit durch die Innenstadt schlendernd, um schließlich ein wenig lauffaul in der Bar de la Haute Ville einzukehren. Recht spät erst begeben wir uns weiter zum Abendessen ins À Casa di l'Orsu ganz am Fuße der Rue Mgr Saveur Casanova. Jetzt haben wir tatsächlich alle drei Restaurants aufgesucht, die uns am ersten Abend ins Auge gesprungen sind.