Wir sind alleiner als tagsüber. "Tagsüber" - das klingt komisch, wo die Sonne doch heute nicht untergehen wird und die nächste Dunkelheit einige Wochen in der Zukunft liegt. Die Strecke fahre ich mit verbundenen Augen, die Gefahrenstellen sind bekannt: Hier kommt der nächste Tunnel, abbremsen, langsam um die Kurve, kein Gegenverkehr zu sehen. Selbst im sonst so kniffligen Tunnel vor Fjordgård ist es entspannt leer. Touristen scheinen Gewohnheitsmenschen zu sein: Sie bleiben ab einer gewissen Uhrzeit einfach daheim.
Die Vorfreude auf die Wanderung ist riesig. Heute steht der Spot an, auf den wir uns beide schon seit langem freuen: Eine Ikone Nordnorwegens. Und wir haben trotzdem nur diffuse Erwartungen. Mir ist klar: Ich werde mumpeln. Aber die Mumpelschwelle liegt sehr hoch. Wenn man einen Ort auf Senja sehen muss, dann ist es hier: die imposanten Gipfel Segla und Hesten. Wir haben viele Reiseberichte gelesen und gehört und unzählige Fotos gesehen. Und trotzdem sind die vorab gewonnenen Eindrücke nicht ausreichend, um das beginnende Kopfkino mit Farbe und Kontrast zu füllen. Wir müssen uns selbst überzeugen. In diesem Spirit ziehen wir los.
Den kilometerlangen Tunnel hinter uns gelassen finden wir am Ende des Örtchens Fjordgård einen Schotterparkplatz vor. Es gibt keine weiteren Wege in diesen Ort hinein. Nur noch auf dem Seeweg. Der Schotterparkplatz ist fast leer, einige Camper haben es sich auf Klappstühlen vor den Vehikeln bequem gemacht. Außerdem zwei, drei Mietwagen. Knapp zehn Minuten gehen wir von hier ab bis zum Start des Wanderwegs. Dort steht der Wegweiser: Segla, Hesten, Barden. Bergauf! Dort möchten wir hin.
Möge der Aufstieg beginnen
Zwei Holzplanken führen uns durch ein verträumtes, lichtes Birkenwäldchen. Durch den Farn und das strahlende Grün wirkt es so, als wären wir auf dem Weg in den Dschungel, würden dort aber nie ankommen. Gegenverkehr und aufholende Wanderer sind selten. Man hört sie aber schon aus der Ferne. Um mich vom Mumpeln abzuhalten, schaue ich auf den permanent mitlaufenden Streckenzähler. Er zählt aber langsamer mit, als ich es mir erhoffe. Meine Hüfte beginnt zu stechen. Eigentlich eine fast willkommene Ablenkung.
Als das Birkenwäldchen hinter uns liegt, ist der Blick frei auf die kahlen, imposanten Berggipfel des Segla und Hesten. Dort, wo sie aus dem Boden ragen, liegt Geröll. Wie zwei gewaltige Zähne ragen sie aus dem grau-grünen Zahnfleisch der norwegischen Landschaft. Links: Der Segla, der das bei weitem markanteste Fotomotiv Senjas darstellt. Rechts: Der Hesten, "Hengst", den wir heute besteigen werden. Der Vorteil beim Aufstieg zum Hesten ist der Blick auf den Segla und seine markante, senkrechte Wand zum Meer hinaus. Kleine bunte Flecken bewegen sich weit oben auf seiner Spitze. Genau dort wollen wir hin.
Die uns entgegenkommenden Menschen wirken zufrieden, fast euphorisch. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein und werde von der Vorfreude geblendet. Fest steht, und das ist uns beiden klar, dass der anstrengende Teil der Kraxelteil vor uns ist. Dort, wo man die Menschen nur als kleine, bunte Flecken an der grauen Felswand sieht. Wir müssen aufpassen, denn der Wanderweg grenzt direkt an die Steilwand. Handlauf oder Einzäunung gibt es nicht. Die Schritte sind dementsprechend vorsichtig. Immer wieder halten wir an, atmen durch, schauen uns um. Zu schön ist die Aussicht in der tief stehenden Sonne. Alles ist in einen warm-goldenen Ton gehüllt. Die Luft ist leicht milchig, am Horizont hängen gewellte Wolkenfronten über dem offenen Meer. Die Sonne streift darüber. Das Wetter: Jackpot!
Das letzte Stück dann gleicht wirklich einer Kletterpartie. Es gibt Stellen, an denen man sich an den staubigen Felsen hochziehen muss. Große Schritte oder gar lange Beine allein reichen nicht aus. Ab und zu kommt uns jemand entgegen. Die geeigneten Stellen zum Ausweichen müssen wir bei unseren Bewegungen bereits einplanen. Plötzlich, fast schon überraschend, sind wir ganz oben auf dem Gipfel des Hesten.
Auf dem Rücken des Hengstes
Hier sind mehr Menschen als wir erwartet haben, man hört ein angeregtes Gemurmel. Es ist fast konspirativ, man möchte leise sein. Nur manchmal dringt ein Lachen oder Räuspern durch. Ein Grüppchen murmelt lauter, der Rest - insgesamt vielleicht 20 Leute - flüstert fast schon.
Bei unserer Ankunft ist es 22:30. Geschlaucht legen wir unser Gepäck ab und verschaffen uns einen Überblick, lassen die Eindrücke auf uns wirken.
Vor uns, in Richtung Nordwesten, geht es in stetem Gefälle bergab in ein Tal. Hier führt auch eine alternative Wanderroute von Fjordgård entlang. Wie eine gewaltige Tribüne baut sich der Gipfel des Hesten zum vor uns liegenden Tal hin ab. Eine Tribüne, die zum Verweilen und Beobachten einlädt: Wie ein überdimensioniertes Natur-Colosseum. Kurz dahinter baut sich die nächste Gipfelkette steil auf. Dazwischen liegt ein kleiner See, der Korkedalsvatnet. Von ihm aus schlängelt sich ein Bachlauf in Richtung Fjord. Ganz rechts - mitten im Fjord - erkennt man sogar noch ein Stück der malerischen Insel Husøy.
Die langgezogene Halbinsel, auf der wir uns gerade befinden, liegt zwischen den Fjorden Øyfjorden im Osten und Mefjorden im Westen. Die Topografie der Landschaft allein ist schon beeindruckend: Schroffe, steile Berge, Blick auf's offene Meer, dunstbehangene Fjorde und eine komplementäre grün-orange Lichtstimmung, wie sie kaum der eigenen Phantasie entspringen könnte. Der Moment wirkt wie Verheißung.
Wenn man den Blick am Horizont entlang schweifen lässt, ist eine flächendeckende Front tief hängender Wolken zu erkennen - eigentlich ein Nebel, dessen Oberseite wellig ist. Klare, aber weiche Konturen der Wolken zeichnen sich in der Mitternachtssonne ab. Darunter das dunkle, ruhige Meer. Die Sonne zieht langsam hinter den vor uns liegenden Berg. Je tiefer die Sonne, desto weicher und wärmer das Licht. Ein milchiger Schleier umgibt die gesamte bergige Küstenlandschaft.
Ich lasse die Drohne steigen, während wir uns mit Wasser und Broten stärken. Ihr Brummen stört fast nicht, wenn man bedenkt, dass hier eine weitere POV-Drohne im Sturzflug die Steilküste entlangfliegt.
Der Tag steckt uns in den Knochen und vor uns liegt noch der Rückweg. Nur noch eine Handvoll Menschen ist hier oben. In der Ferne sehen wir noch vereinzelt Gruppen aufsteigen, während wir uns für den Abstieg bereitmachen.
Dem Nebel entgegen
Gegen halb eins kraxeln wir erst das steile Stück Felsen hinab, es gleicht einer kurzen Kletterpartie. Wir sind vorsichtig und langsam, halten oft an und lassen die Stimmung auf uns wirken.
Der Abstieg ist anstrengender als der Aufstieg, selbst auf den flachen Wegstücken machen wir kaum Strecke. Selten kommt uns jemand entgegen. Zuletzt eine ostasiatische Gruppe junger Leute, augenscheinlich Blogger oder Youtuber, die ihren Aufstieg dokumentieren. Sie sind overdressed für eine Wanderung, aber trotzdem wirkt ihre Erscheinung irgendwie quirlig und stimmig zugleich.
Ein weiterer Nebelschleier zieht nun über das Tal, in das wir hinabsteigen. Während der Nebel vorhin nur als dichter Teppich über dem offenen Meer lag oder als sanfter Schleier die dem Meer zugewandten Berge bis in die Fjorde umfloss, scheint dieser Nebel über die Berge vom Fjord zu kommen. Das Birkenwäldchen wirkt jetzt noch mystischer als beim Aufstieg.