Knapp 40 Kilometer nordwestlich von Svolvær liegt ein Dörfchen namens Brenna. Weit der E10, am Ende des 10 Kilometer langen Brennaveien, zieht es nur wenige Touristen in diesen recht abgelegenen Teil. Erst recht bei der baldigen Aussicht auf Regen.
Unsere Gastgeberin Julia hat uns diesen Ort empfohlen. Hier soll es gleich mehrere Wanderwege geben. Wir sollten unbedingt den Berg besteigen, doch der Weg dorthin sei schwer zu finden, sagte sie. Eine Alternative führt fast ebenerdig die Küste entlang.
Uns ist nach nichts Anspruchsvollem, der Tag kann gern dahinplätschern. Diese Donnerstagswanderung soll sich wie ein Sonntagnachmittagsspaziergang anfühlen. Alles spricht für die flache Tour. Erwartungen haben wir keine.
Ein Holztor trennt den Wanderweg vom Dorf. Er ist eher ein Feldweg: Zwei sauber ausgefahrene parallele Spuren steinigen Untergrunds. Drumherum und mittendrin struppiges Gras und flauschige Schafe, wohin man blickt. Aus allen Richtungen bimmeln Glöckchen. Mal blökt es grummelnd aus dem hohen Gras, mal schrill. Die Schafe sind hier natürlich genauso freundlich wie jene von letzter Nacht. Aber heute sind sie deutlich scheuer.
Die Stimmung erinnert stark an die moosbewachsenen Lavafelder Islands. Große Findlinge verteilen sich markant in der grasigen Landschaft. So, als hätte sie jemand vergessen wegzuräumen. Der Feldweg schlängelt sich lässig um sie herum.
Auf einem großen, glatten Felsen an der Küste machen wir Pause. Die zurückgelegte Strecke ist nicht der Rede wert, aber wir haben ja Zeit. Auf dem Fels steht ein kleiner Leuchtturm. Von hier aus hat man einen freien Blick auf den Gimsøystraumen. Auf knapp 18 Kilometern Länge trennt die Meerenge die Inseln Vestvågøya von Austvågøya. Und hierüber führt auch die imposante Gimsøystraumen bru.
Hier ist es trocken, aber ganz in der Ferne sieht man immer wieder Regenschlieren vor der Berglandschaft vorbeiziehen.
Mitten in der grünen, von Findlingen und Felsen durchsetzten Landschaft, stehen vereinzelt Holzhäuser. Alles gleicht einer Filmkulisse und wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen. Die Häuser sind Fremdkörper und gehören doch irgendwie dazu. Mal verbrettert, mal offensichtlich bewohnt, Scheunen, Schuppen, häufig mit grasbewachsenen Dächern. Wir philosophieren, wer hier wohl wohnt. Sind es Sommer- oder Gästehäuser? Wird hier außer der Schafzucht noch weitere Landwirtschaft betrieben? Wann wurden die Bootsanleger das letzte Mal benutzt? Es sieht alles intakt und gepflegt aus, aber Menschen sieht man keine. Die Wanderer, denen wir begegnen, können wir an einer Hand abzählen.
Die Häuser, die Schafe, die Landschaft sind auf märchenhafte Weise irgendwie Eins. Als hätten wir mit dem Gang durch das Holztor eine Märchenwelt betreten.
Die kleinen Wellen auf dem Meer schwappen entspannt auf und ab. Meer und Himmel gehen fast Ton in Ton ineinander über. Und auf den Felsen davor, direkt am Meer, hocken Krähe und Adler. Sie ärgern sich gegenseitig. Die Krähe ist deutlich frecher. Dann sitzen beide akkurat nebeneinander. Still wie zwei Freunde, die sich wortlos verstehen und einfach nur gemeinsam den Ausblick genießen.
Als ich ein Video davon mache, ist die Krähe bereits weg. Ich zoome an den Adler heran, der Bildausschnitt ist winzig. Der Adler sitzt ganz still und wachsam auf dem Stein, im Vordergrund weht das Gras im Wind.
Im Augenwinkel sehe ich etwas Schwarzes aufblitzen, dann noch einmal. Erst beim zweiten Mal verstehe ich, was hier eigentlich passiert. Und es fühlt sich absurd unwahrscheinlich an. Absurder als ein Hauptgewinn im Lotto.
Zwei Schweinswale sind gerade durch diesen winzigen Bildausschnitt aufgeblitzt! Eine riesige weiße graue Wasserfläche vor uns, ständig halten wir Ausschau, schon seit Tagen überall auf den Lofoten. Nur einmal meinen wir einen Wal gesehen zu haben. Und jetzt alles auf einmal auf einem einzigen, winzigen Bildausschnitt.
Dass dieser Zufall allein den Rahmen unserer Erwartungen sprengt, ist für sich genommen klar. Dass die grauen Regenschlieren uns exakt in dem Augenblick erreichen, als das Auto in Griffweite liegt, macht die Illusion perfekt. Vielleicht ist ja doch etwas dran an der Märchenwelt von Brenna, das wir durch ein simples Holztor betraten.