Swanetien wird oftmals als landschaftlich eindrucksvollste Gegend Georgiens bezeichnet. Aus touristischer Sicht stehen Mestia und Ushguli (meist im Doppelpack) stellvertretend für diese Region im Großen Kaukasus. Die Swanen gelten unter den Georgiern als Bewahrer der ursprünglichen Traditionen und der Kultur. Tatsächlich ist Mestia, das touristisch nicht unwesentliche Örtchen mit knapp 2000 Einwohnern in dem wir uns gerade befinden, die Verwaltungshauptstadt der Region Swanetien. Ushguli, wohin uns die Reise heute führen wird, gilt als besonders ursprüngliche Ortsgemeinschaft, die außerdem sehr abgelegen ist. Den größten Teil des Jahres ist diese Region eingeschneit. Es führt nur eine einzige "Straße" dorthin. Von den etwa 400 Einwohnern lebt nur die Hälfte im Sommer dort. Zwei Nächte wollen wir dort verbringen.
Die etwa 40 Kilometer Fahrt bis nach Ushguli treten wir als einzige in unserem Kleintransporter an. Der Fahrer, ein betagter, hagerer, mit seiner gelben Sonnenbrille etwas quirlig wirkender Zeitgenosse, fährt uns zusammen mit seiner Frau. Seine Frau auf dem Beifahrersitz hat die ganze Zeit ihre Arme auf ihrem fülligen Körper verschränkt. Wenn sie nicht gerade telefoniert. Bis zur Stadtgrenze werden wir im Schritttempo durch die Gegend kutschiert, denn die Frau versucht noch einige Touristen für die Fahrt anzuwerben. Erfolglos.
Hinter der Stadtgrenze ist die Straße noch einige Serpentinen weit befestigt. Später dominieren Geröll, Staub und Löcher. Vor allem die Löcher. Fahrer und Fahrersfrau haben die Fenster auf. Es staubt rein, es riecht nach trockener Erde. Mit jedem Luftstoß bilden sich neue Verwirbelungsmuster im Innenraum, teilweise schimmert der Staub in allen Farben. Die Sitzbank wackelt. Jedes Loch lässt uns kurz nach hinten schaukeln. Es fühlt sich fast wie ein Umkippen an. Die Schiebetür zu meiner Rechten hat in Bodennähe einen daumenbreiten Spalt und klappert. Ich kann die Straße durch den Spalt sehen. In den Kurven vermeide ich es mich an ihr abzustützen. Halte mich lieber am Vordersitz fest. Die Tatsache, dass die gutgenährte Fahrersfrau und ich auf der Abrgrundseite sitzen, der schmächtige Fahrer und Teresa hingegen auf der Straßenseite mit Halt, ist nicht unbedingt förderlich für ein Nickerchen. Die "Fahrbahn" ist mittlerweile extrem schmal. Waren auf dem Weg von Zugdidi nach Mestia noch Leitplanken verbaut oder zumindest Stahlseile gespannt, gibt es hier nichts, das uns bei einem Fahrfehler davon abhalten würde, den wenige Zentimeter entfernten Abgrund herunterzustürzen. Das scheint hier gar nicht so selten vorzukommen. Kein beruhigender Gedanke, allerdings ist heute das Wetter gut, die Gegebenheiten perfekt. Es ist trocken, nur vereinzelt fahren wir durch kleine Bächlein, die gerne auch mal zu Flüssen werden.
Gegenverkehr ist an vielen, vielen Stellen kompliziert. Wir haben Glück und treffen nur an gutmütigen Stellen auf entgegenkommende Fahrzeuge.
Immer wieder begegnen wir Wanderern und weißen 4x4-Bussen mit Gruppen asiatischer Touristen, die nur kurz unterwegs aussteigen und die Umgebung schnappschießen.
Wir sind in einem langgezogenen Tal angekommen. Die ersten Wehrtürme sind zu erkennen. Wehrtürme haben wir auch schon in Mestia gesehen, aber nicht in der Konzentration. Sie sind etwas, was für Swanetien steht. Befestigungsanlagen um Familienverbände vor anderen Familienverbänden im Streit- oder Angriffsfall zu schützen. Wir sind in Ushguli, in der Dorfgemeinschaft, oder "Stadt", der Wehrtürme, direkt am Hang gelegen.
Wir passieren die beiden Unterdörfer. Wir sind im Dorf Chvibiani untergebracht, eigentlich dem einzigen Dorf, in dem noch nennenswert etwas in Ushguli los ist. Wir fahren über eine Brücke über den Fluss Enguri, der auch den Enguri-Stausee speist. Einige Kilometer nordöstlich entsteht dieser Fluss aus dem Schmelzwasser des Shkhara-Gletschers. Fahrer und Fahrersfrau entlassen uns. Weisen uns sogar noch netterweise den Weg. Die Hand zeigt ins Dorf. Wir suchen nach dem Gästehaus Lika. Das, so stellt sich heraus, ist alles andere als trivial zu finden, wenn man den oberen Ortseingang nimmt. Und, wenn er auf der Karte auch noch falsch eingezeichnet ist. Wir fragen uns durch, die Anwohner weisen uns nach einigem Zögern den Weg. Das Zögern kommt daher, dass kaum jemand von dieser Unterkunft weiß. In einem Zweihundertseelendorf, na klasse! Eine Frau bringt uns letztlich bis auf den Hof. Ohne sie hätten wir noch lange an der falschen Stelle gesucht. Sie ruft den Vornamen der Besitzerin. Geht ins Haus, ruft nocheinmal. Ein sehr alter, sehr vom Leben gezeichneter Mann mit gebücktem Gang erscheint. Die Gastgeberin sei in Mestia, offenbart uns unsere Wegweiserin und verabschiedet sich.
Der Mann mit gebücktem Gang scheint ein wenig verunsichert. Unverkennbar möchten wir hier ein Lager beziehen. Die Kommunikation ist schwierig, wir betreten das rustikale Haus. Er zeigt uns stolz die Zimmer. Eins nach dem anderen. Zwei sind verschlossen. Wir entscheiden uns einfach für eines und bedanken uns. Scheinbar kann man einige der Zimmer nicht von außen verschließen, eines davon ist unseres, fällt uns dann auf. Das ist uns hier allerdings egal. Hier stehen überall die Türen auf, Nachbarn gehen ein und aus.
Der Ort ist nicht so richtig für den Tourismus gewappnet, fällt uns auf. Viele Gäste kommen aus Mestia als Tagesgäste, hier und da ist eine Unterkunft, die sogenannten "Guesthouses". Dennoch gibt es nichts Festes. Die Einheimischen haben Pavillons in ihre Gärten gestellt, man kann etwas essen und etwas trinken. Wir stärken uns zunächst auch und wollen den weiteren Plan besprechen.
Es ist mittlerweile kurz vor zwei. Für eine größere Wanderung lohnt es sich nicht aufzubrechen. Wir möchten uns erst mit dem Dorf bekanntmachen. Entscheiden uns also dazu, einfach wild darauf loszuspazieren, dort wo uns das Auge hintreibt. Das ist schwierig, denn tatsächlich schaut es überall interessant aus.
Wir gehen auf die Anhöhe zwischen unserem Oberdorf Chvibiani und den Unterdörfern. Auf der Anhöhe steht ein großer Swanetischer Wehrturm. Von dort aus hat man einen tollen Blick über das Engurital. Es ist überall steil hier und jeder Weg ist auch für uns mit Anstrengung verbunden. Großen Respekt haben wir vor den Betagten, für die jeder Gang mit einer noch größeren Anstrengung verbunden sein muss.
Wir genießen ein wenig den Ausblick, gehen weiter runter in das erste Unterdorf. Es wirkt wie eine Zeitreise. Ziemlich alte, traditionelle Gebäude wirken wie verlassen. Wieder einmal. Als wäre das das historische Anhängsel der ohnehin historisch anmuntenden Siedlung, in der wir untergekommen sind.
Es laufen Säue mit ihren Ferkeln durch die Straßen, lassen sich von uns nicht stören. Hunde, Kühe, immer wieder einmal ein Pferd. Und dann die Gebäude, die aus Findlinge, Geröll und Schieferplatten hochgezogen zu sein scheinen.
Trotzdem brennt hier und da mal Licht. Und es fließt hier und da mal Wasser in eine im Vorgarten stehende Badewanne. Wasser scheint es hier dank des Gletschers im Überfluss zu geben, das haben wir schon öfter in Swanetien beobachtet.
Es treibt uns weiter über ein Feld entlang eines Feldwegs. Links grasen die Kühe, rechts ist die Hauptzufahrtsstraße. Jedes vorbeifahrende Auto zieht eine riesige Staubwolke hinter sich her. Hier wehen die Staubwolken genau über uns. Wir geben uns Mühe, die Heuschrecken nicht zu zertrampeln, die auf dem Weg herumhüpfen und -fliegen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Enguri sind Pferde. Während wir sie bewundern, sind wir ihnen egal.
Das zweite Unterdorf ist ähnlich vom Aufbau her. Noch ein bisschen älter, noch ein bisschen verlassener. Offenbar wurde es einmal von einer Schneelawine überrollt. Seitdem ist dort kaum jemand anzufinden. Es ist zu einem Freiluftmuseum geworden.
Hier kehren wir um, müssen alles erstmal einordnen und verarbeiten. In der Unterkunft angekommen schauen wir, ob unsere Gastgeberin aufgetaucht ist. Fehlanzeige. Der alte, gebückte Mann begrüßt mich ein zweites Mal, erkennt mich nicht, fragt ob wir ein Zimmer bräuchten. Er führt mich herum bis ich ihm erkläre, dass die dort liegenden Sachen unsere sind. Er scheint zu verstehen. Teresa wartet währenddessen unten im Garten. Die alte Frau erzählt ihr etwas, streichelt ihr über den Rücken. Es ist nicht klar, worum es geht.
Viele Ferkel tummeln sich vorm Haus. Es sind neugierige fremde Ferkel, die sich auf Erkundungstour befinden, einen Molkeeimer umschmeißen und sich sogar von mir streicheln lassen. Bis dann unser Ersatzgastgeber kommt und sie mit erstaunlich schwungvollen Schlägen verjagt.
Wir wollen noch hoch ins Oberdorf und ein wenig höher: Zum Kloster Lamaria, das auf einem Hügel über der gesamten Gegend thront. Es ist einer der bedeutendsten religiösen Orte Georgiens und ein wenig unscheinbar. Davor befindet sich ein Friedhof. Die Inschriften sind schmuckvoll, die Gräber gepflegt. Auf allen Grabsteinen sind die verstorbenen kunstvoll porträtiert. Sehr zeitlos, sodass manch eine Jahreszahl erstaunt. Eine Besonderheit bei der Ehrung der verstorbenen besteht darin, dass einmal im Jahr an sie gedacht wird. Ihnen zu Ehren wird eine Feier veranstaltet - in großer Runde und mit Tischführer. Die Gräber auf diesem Friedhof sind umzäunt und bei den meisten gibt es einen Tisch, der letzten Endes zum Trinken gedacht ist. Viele der Gräber haben eine kleine Aushöhlung im Grabstein oder im Grabmal. Da stehen dann einige Gläser und häufig eine volle Flasche Wein.
Wir haben uns zunächst mal sattgesehen, sind erstaunt über die vielen überraschenden und interessanten Eindrücke. Und wir sind auch froh, dass wir über zwei Nächte bleiben werden.
Nach einem kurzen Abstecher zur Unterkunft verbringen wir den Rest des Abends - es ist kurz nach 20 Uhr, dunkel und wir sind jetzt schon müde - im Café Svaneti auf einen Weißwein und einen Chacha. Hier ist es gemütlich. Es gibt einen kleinen Ofen, der das Schieferplattenhäuschen in eine angenehme Atmosphäre taucht. Es ist urig, der Gastgeber nett und bemüht und sonst gibt es auch nicht viel zu tun, "spätabends" im ursprünglichen Ushguli.