Die erste Nacht in dieser unwirklichen Gegend liegt hinter uns. Während wir noch in den Federn liegen und den Beginn des Tages ein wenig hinauszögern, sind die Einheimischen größtenteils in Bewegung. Sie treiben das Vieh auf die Weide oder fahren mit ihren Klapperkisten auf die Felder. Die Fenster sind undicht und es ist ein großer Sprung in der Scheibe. Man kriegt von draußen das meiste deutlich mit. Auch die hiesige Fauna beteiligt sich lautstark am ushgulischen Treiben. Krähende Hähne, grunzende Säue und quiekende Ferkel, bellende Hunde, muhende Kühe gesellen sich zu den tuckernden Motoren und den schreienden Bauern dazu. Die Bauern schreien das Vieh an.
Es war kalt in der Nacht, die Decken sind dick, die Sonne ist mittlerweile aufgegangen und lässt von Minute zu Minute mehr von dem Tal in einem warmen orange glühen. Nacheinander machen wir uns also im Gemeinschaftsbad fertig. Unser Weg führt uns zu einem neben einer Bäckerei gelegenen "Minimarket". Dort versorgen wir uns mit Khachapuri und Kaffee, bevor es auf "große Wanderung" geht. Das Gepäck dafür haben wir schon mit dabei. Fotoausrüstung und Wasser. Die Säue machen es sich mittlerweile in der Sonne bequem. Auf der Seite liegend werden sie gierig von den Ferkeln umwirbelt. Für den Großstädter ein ungewohnter, aber angenehm ursprünglicher Anblick. Genauso wie die Geräusche, die uns beim Aufstehen begleitet haben.
Tageswanderung zum Shkhara-Gletscher
Wir wollen heute über das Oberdorf hinaus immer am Fluss Enguri entlang durch ein langgezogenes Tal. Bis zu dem Ort, an dem der Fluss entspringt. Der Berg Shkhara ist mit 5193 Metern Höhe der höchste Berg Georgiens, der tiefste Punkt des gleichnamigen Gletschers soll bequem zu Fuß in etwa acht Kilometern Entfernung flussaufwärts liegen. Für uns Wanderunerfahrene also machbar. Wir gehen am Kloster mit dem traditionellen Friedhof vorbei, den wir gestern schon aufgesucht haben. Dahinter eröffnet sich dann das weitläufige obere Engurital. Einige Touristen drehen hier mit ihren Autos ihre Runden und erproben die Offroadtauglichkeit ihrer kleinen Geländewagen. Tatsächlich ein sehr befremdlicher Anblick.
Rechterhand liegt ein Skilift, der sehr modern und neu zu sein scheint. Das sonst so ursprüngliche Ushguli scheint sich vermehrt auf den Tourismus zu konzentrieren. Hinter einer befahrbaren Brücke geht es nun mit kaum merklicher Steigung nordostwärts. Ab und zu fahren Autos mit Touristen vorbei. Sie sparen sich den größten Teil des Fußwegs, sind aber wegen der Wegbeschaffenheit kaum schneller unterwegs als wir zu Fuß. Der Wegweiser am Ortsaufgang zeigte fünf Stunden für die Wanderung zum Gletscher an. Bei unserem Durchschnittstempo von knapp fünf Stundenkilometern sollten wir es in zwei schaffen. Die Foto- und Trinkpausen allerdings nicht mit eingerechnet.
Die Bauern haben an den Hängen gut damit zu tun die Wiesen mit Sensen zu mähen. Das Gras wird dann auf kleine Transporter verladen und in die Scheunen transportiert.
Auf halber Strecke entdecken wir einen niedlichen Friedensbully mit aachener Kennzeichen.
Dreiviertel der Strecke ist zurückgelegt und wir liegen ziemlich gut in der Zeit. Rechterhand ist ein Restaurant, in dem es sich die georgischen Fahrer der Touristenautos bequem machen. Dann folgt eine Gabelung. Bis hierhin ist der Weg mehr als trivial gewesen. Wir biegen nach links, bergauf einen Feldweg entlang und begegnen einem deutschen Paar, das sich bei uns erkundigt, ob wir wüssten wo lang es geht. Ein Bauer hätte sie nämlich zurückgeschickt. Tatsächlich verrät ein Blick auf die Karte, dass man doch den unscheinbareren Weg hätte nehmen sollen. Hier geht es nun durch Gestrüpp und durch kleine Rinnsale, die dem ein oder anderen sicherlich nasse Füße beschert haben.
Schließlich dann wird das Höhenprofil doch noch knifflig. Es wird immer steiler. Unser Tempo nimmt deutlich ab. Wir überholen langsamere Touristengruppen, die sich haben herfahren lassen. Eine gute halbe Stunde dauert der Aufstieg, bis der Gletscher sich in seiner vollen Pracht zeigt.
Es ist das erste Mal, dass wir so deutlich sehen können, wie ein Gletscherfluss entsteht. Der überwiegende Teil des Gletschers ist so weit unten mit Staub, Sand und Geröll bedeckt. An den Bruchstellen scheint das Eis blauweiß durch. Überall auf der Oberfläche bilden sich kleine Rinnsale von Schmelzwasser. Und der Enguri kommt aus der Tiefe dieser Eismasse bereits mit ziemlicher Wucht herausgeschossen. Mir fällt keine Überschlagsrechnung ein, mit der ich das viele Schmelzwasser und den Gletscher in Verbindung bringen könnte. Ich hab einfach kein Gefühl für die Größenordnungen, mit denen wir es hier zu tun haben.
Ständig bewegt sich etwas am Gletscher. Kleine Steinchen und größere Brocken stürzen von der Oberkante in knapp 30 Metern Höhe herunter. Auf Zwischenplateaus oder aber auch auf unser Niveau, auf dem sich etwa zwei Dutzend Touristen ausruhen, Fotos schießen und Steine stapeln.
Das Gletscherwasser schimmert matt-blau. Die Hunde, die einige Touristen mit nach oben begleitet haben, trinken daraus. In sicherer Entfernung zur Bruchkante setzen auch wir uns hin und ruhen uns aus, cremen uns erneut ein und beobachten fasziniert die Naturgewalt.
Ein Pärchen trudelt ein, begutachtet die Gletscherkante. Sie fotografiert aus nächster Nähe, er will sich am Rinnsal unterhalb des Gletschers erfrischen. Ich meine noch zu Teresa, dass das ganz schön leichtfertig ist. Einige Augenblicke später setzt sich einige Meter über ihm ein wassermelonengroßer Stein in Bewegung. Die Situation noch nicht vollends realisiert, rutschen mir nur einige leise Fluche heraus, während der Stein über die Kante rollt und ihn an der Schulter streift. Er scheint auch erst zu begreifen, wie knapp das gerade war, als noch einige kleine Steinchen über ihm nachrieseln. Er lächelt nur begeistert, schüttelt sich ein wenig. Jetzt hat er daheim wohl etwas zu erzählen. Seine Freundin reagiert gar nicht. Beide gehen noch dichter an den Gletscher heran. Manchmal ist es entsetzend, wie unbelehrbar wir sind.
Keine zehn Meter weiter fotografiert eine asiatische Reisegruppe sich gegenseitig. Immer näher dran, immer größere Eisbrocken triumphierend in der Hand haltend. Teilweise brechen sie sie aus dem Gletscher heraus. An der obersten Gletscherkante in etwa 30 Metern Höhe hängt ein mannsgroßer Steinbrocken auch nur noch auf halb acht.
Wir schauen uns noch ein wenig um, nippen an unserem Wasser und machen uns allmählich auf den Rückweg. Bergab geht es durch das unwegsame Gelände auch nicht besser als bergauf. Es kommen uns mehrere Leute entgegen, scheinbar eine Reisegruppe. Schlechtestmöglich für eine Wanderung gekleidet, aber die modischen Handtaschen sind dabei. Wir gönnen uns noch eine kleine Pause in dem Restaurant. Ich bekomme mit, wie eine polnische Reisegruppe von einem Gruppenfoto spricht, sie sich aber nicht entscheiden können, wer fotografiert und biete mich schließlich dafür an. Die Reisegruppe wird nachher mit den vor dem Restaurant festgemachten Pferden zurückreiten. Die georgischen Fahrer der Touristentaxis sitzen nach wie vor im Restaurant und bestellen sich zum wiederholten Mal eine Karaffe Chacha. Dann doch besser auf einem nüchternen Pferd, denke ich. Wir ziehen dann zu Fuß auch weiter und blicken immer mal wieder zurück in das beeindruckende Tal.
Das etwas andere Kinoerlebnis
Bereits in Kazbegi hatte uns das nette deutsche Paar den Tipp gegeben, das örtliche Kino in Ushguli aufzusuchen. Für so ein Örtchen ist ein Kino in der Tat ein wenig ungewöhnlich. Bei diesem Kino handelt es sich auch nicht um ein typisches, für die Bewohner vorgesehenes Blockbusterkino, sondern es steht nur ein Film auf dem Programm: Dede von 2017. Der Film setzt sich kritisch mit den hiesigen Traditionen auseinander und handelt von der Entmündigung einer Frau, der eigentümlichen Gerichtsbarkeit, Blutfehden und dem Einkehren der modernen Medizin.
Stolz wird in Ushguli vielerorts Werbung für den Film gemacht, auch in Mestia schon finden sich Plakate und Kinovorstellungen. Tatsächlich finde ich, dass an einem Ort, der der Inbegriff der georgischen Ursprünglichkeit ist, derart stolz und offen mit solch heiklen Themen umgegangen wird, eine kleine Sensation ist. Abends wollen wir uns neugierig diesen Film an seinem Drehort anschauen.
Der Kinosaal selbst ist ein Raum in einem Schieferplattenhaus. Die aus Brettern zusammengezimmerten und gepolsterten Sitzbänke wirken provisorisch. Es gibt eine Leinwand, einen Beamer, einen Laptop, zwei kleine Laptopboxen und einen Heizstrahler. Dieser Ort versprüht einen ganz eigenen, wahnsinnig netten Charme. Für Teresa wird der Heizstrahler noch zurechtgerückt. Er ist jetzt direkt vor ihren Beinen.
Wir sind die einzigen im Kino - Privatvorstellung also. Wir werden gefragt, ob wir Weiß- oder Rotwein möchten. Pünktlich um 19:00 beginnt die Vorstellung, der "Vorführer" verlässt den Raum.
94 Minuten wird der Film dauern. Er handelt von einer Frau, die heiraten wird. Einen Soldaten nämlich, der 1992 aus dem Krieg kommt. Doof nur, dass sie sich vorher in seinen besten Kumpel verliebt hat und ihm bei den Hochzeitsvorbereitungen wieder begegnet. Sie lehnt sich gegen ihre arrangierte Heirat auf und gerät in den Zwiespalt von Familienehre und Selbstbestimmung. Sehr interessant ist der Film in der Hinsicht, dass man einen Eindruck von der Ursprünglichkeit und von den Traditionen bekommt, die hier (teilweise immer noch) herrschen. Es irritiert uns, dass man nicht unterscheiden kann ob die muhende Kuh nun aus den Lautsprechern kommt oder vor der Tür steht.
Zwischendurch schaut der Vorführer bei uns rein und holt uns wieder in die Realität. Eine gute Entscheidung, den Film am Originalschauplatz zu schauen. Etwa in der Hälfte des Films geht die Tür auf. Eine ältere Frau scheucht zwei Jungen hinein. Einer der Jungen ist der Hauptdarsteller im Film, der Sohn der Frau um die es geht. Kino "zum Anfassen". Die Jungs beobachten genau, wie wir auf den Film reagieren. Die Situation ist ungewohnt, aber ganz witzig.
Ganz so tiefsinnig wie versprochen finden wir den Film nicht. Es sollte um Feminismus und Selbstbestimmung gehen. Für hiesige Maßstäbe mag das stimmen. Der komische Beigeschmack kommt allerdings daher, dass die Traditionen letzten Endes gewinnen. Nur das Leben des Jungen, schwer erkrankt inmitten der kaukasischen Einöde, kann durch moderne Medizin gerettet werden.
Wir verabschieden uns von den Jungs und vom Vorführer und kehren noch im Café Svaneti ein. Der Wirt erkennt uns wieder, es läuft ein Mix aus moderner und traditioneller Musik. Und es ist voller als gestern. Wir setzen uns hin, bestellen Wein und Chacha. Als ich kurz den Raum verlasse und Teresa unseren zweiten Wein bestellt, geht die Party erst richtig los. Der Wirt zwinkert ihr zu, beginnt anschließend spontan zu tanzen. "Wuoppa!" ruft er zwischendurch und springt halsbrecherisch auf den Bänken herum. Dabei soll's nicht bleiben. Er lädt die anwesenden jungen Damen zum Tanz. Zunächst unseren Nachbartisch, zwei Südafrikanerinnen scheinbar, eine davon kann russisch sprechen. Dann Teresa. Es gibt Chacha auf's Haus. Die restlichen anwesenden Gäste klatschen zum Rhythmus der Musik, die Stimmung ist gut.