Wir haben beschlossen, dass wir heute noch einmal eine Tageswanderung machen wollen. Am Mestia-Kreuz vorbei zu den Koruldi-Seen. Der Reiseführer beschreibt die Tour als anspruchsvoll. Man solle erfahren sein und gute Kondition mitbringen. Klaro, "haben wir", was kann schon schief gehen.
An der Polizeistation biegen wir rechts ab. Wir haben uns mit Kartoffeltaschen und einem leckeren Brot eingedeckt. Ab hier wird es nur noch bergauf gehen. Anfangs haben wir tatsächlich Probleme den Wanderweg zu finden. Die Informationen sind widersprüchlich, die Kennzeichnung nicht vorhanden. Wir gehen ein gutes Stück entlang des Bächleins, gehen durch den Apfelgarten und sind endlich unmissverständlich auf dem richtigen Weg. Ab hier stimmt es mit der Karte wieder überein.
Wir kraxeln langsam den steilen Weg entlang. Es wird immer steiniger. Ein Blick zurück zeigt uns, wie hoch wir bereits sind. Die Häuser Mestias werden immer kleiner. Tatsächlich sind es schon über 300 Höhenmeter, die wir zurückgelegt haben. Teresa ist heute in nicht ganz so guter Form. Erstaunlicherweise macht mir die Anstrengung heute nichts aus. Ich habe noch eine Menge Reserven. Ich passe mich Teresas Tempo an, meist bleibe ich hinter ihr.
Bis zum Mestia-Kreuz haben wir tatsächlich noch knappe 400 Höhenmeter zurückzulegen. Jeden einzelnen Höhenmeter zählen wir. Es will einfach nicht näher kommen. Der eingezeichnete Wanderweg macht noch unzählige Zickzacks durch den sich nicht lichten wollenden Wald. Immer häufiger legen wir eine Pause ein. Hätten wir eventuell den deutlich längeren Weg nehmen sollen? Wir zweifeln ein wenig an unserer Wegwahl. Strecke statt Höhe bekommt uns wahrscheinlich besser. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir uns zum Abschluss nochmal so herausfordern.
Der Zucker der eigentlich so ungesunden Cola pusht uns kurzzeitig und tut auf eine komische Art wahnsinnig gut! Noch 200 Höhenmeter. 199, ne, irgendwie doch 202. Die Ungenauigkeit der GPS-Höhenmessung treibt mich in den Wahnsinn. Das Mestia-Kreuz befindet sich ungefähr auf 2200 Metern. Wir sind halt... irgendwo darunter. Knapp zweieinhalb Stunden werden wir dorthin brauchen. Davon ist nur eine Stunde reine Gehzeit. Das sagt schon alles.
Oben werden wir aber mit einem fantastischen Blick über das Tal begrüßt. Eine aufgestelzte Plattform unterstützt den weitschweifenden Blick in die Berge. Das Kreuz selbst ist riesig, wirkt aber irgendwie klein. Viele Touristen haben sich hinauffahren lassen. Diejenigen, die zu Fuß gegangen sind, erkennt man am Stöhnen, Schnaufen, Fluchen in unterschiedlichsten Sprachen. Es gibt also noch einen weiteren Weg hier her, denn wir sind wirklich niemandem unterwegs begegnet.
Auch eine Gruppe von Kühen grast hier ein wenig herum. Wir haben ihr Interesse geweckt. Sie schnuppern an uns, sie schnuppern am Brot, an der Fantaflasche, am Rucksack. Und hinterlassen ganz viel Sabber. Stur und behäbig wie sie nunmal sind, lassen sie sich auch nicht wegdrücken. Wir wollen nun auch auf die Plattform.
Hier begegnen wir dem Pärchen, das wir gestern in der Trattoria gesehen haben. Sie haben nichts bestellt und sind wieder gegangen. Es stellt sich heraus, dass sie auch aus Berlin sind. Und tatsächlich haben sie uns gestern auch bemerkt. Gut, so viele Leute mit Laptop im Restaurant sieht man hier auch nicht. Wir tauschen uns ein wenig aus, erzählen von Ushguli und unseren bisherigen Stationen. Es wird viel gelacht. Wir empfehlen für heute Abend noch das Café Laila, in dem wir gestern waren. Vielleicht trifft man sich heute Abend ja nochmal dort. Zu den Koruldi-Seen wollen die beiden aber nicht mehr. Großspurig behaupte ich es seien noch 200 Höhenmeter, den größten Batzen haben wir ja schon hinter uns, versuche sie noch zu motivieren. Sie zögern kurz, aber keine Chance. Wie richtig wird doch ihre Entscheidung sein, wie sehr werde ich mich geirrt haben...
Die Rast hat gut getan, wir schultern unser Gepäck und machen uns weiter hinauf. Es sieht ein wenig nach Regen aus, hier kann das Wetter schnell umschwingen. Aber sollte es beginnen zu regnen, kann man ja relativ zügig wieder umkehren, denken wir.
Es geht vorbei an ein paar Hütten. Verlassen oder nicht, keine Ahnung. Hier ist das wirklich nicht zu unterscheiden. Ein alter, blauer LKW steht fotogen in der Gegend herum, bietet einen interessanten Kontrast zu der gelblich-grünen Landschaft.
Es ist staubig. Ab und zu kommt ein Geländewagen vorbei und bringt Touristen bis an die Seen heran. Stur setzen wir einen Fuß vor den anderen. Die Steigung ist angenehm. Es sind nur noch dreieinhalb Kilometer und die Landschaft ist malerisch.
In der falschen Hoffnung, dass das so bleiben wird ziehen wir weiter. Vorbei am Lake Georgia, der eher ein fast trockener Tümpel ist. Schön ist es trotzdem hier. Ab und zu erhaschen wir einen Blick auf den Mount Ushba, den markanten Doppelgipfel mit knapp 4700 Metern Höhe. Doch die längste Zeit bleibt er in den Wolken verborgen.
Zwischendurch kommt die Sonne heraus und es ist relativ warm. Wir machen eine kurze Pause und eine böse Ahnung macht sich breit. Dieses extrem lange, steile Stück da vorne müssen wir auch noch stemmen. Nix da 200 Höhenmeter. Es sollen 500 werden. Verdammt! Aber umdrehen wollen wir auf keinen Fall. Zähne zusammenbeißen und weiter geht's. Mittlerweile haben wir auch wieder standesgemäß zwei tierische Begleiter. Hunde eben, einer davon scheint ein Husky zu sein. Laut schnaufend aber leichtpfotig motivieren sie uns zum Weitergehen. Mal begleiten sie andere Wanderer, mal begleiten sie uns. Das Tempo ist mittlerweile alles andere als angenehm, aber wir wollen nur vorwärts kommen.
Der steile Aufstieg wird immer wieder von kurzen Plateaus unterbrochen. Sie laden immer wieder zur kurzen Rast ein. Wir trauen uns gar nicht mehr hoch zu schauen, auch hier nimmt der Anstieg einfach kein Ende. 400 Höhenmeter haben wir schon, knapp 100 sind's noch. Uff.
Oben angekommen machen wir drei große Mestiakreuze. Wir sind schon ein wenig stolz es durchgezogen zu haben. Doch wo sind die Seen? Auch sie sind kleinen Teichen gewichen. Die Seen sind bekannt für ihre Schönheit bei gutem Licht, wenn sich der Kaukasus in ihnen spiegelt und die Sonne gut steht. Wir erfahren, dass eigentlich auch der Aufstieg das eigentlich schöne an dieser Attraktion sei. Dafür hatten wir aber leider kein Auge frei. Zu sehr kontrollierten wir strengen Blickes unsere Füße, dass sie auch ja das machen, was sie machen sollten.
Hier verschnaufen wir ein wenig. Je mehr wir uns erholen, desto mehr können wir uns auch wieder für die Wunder der Natur begeistern. Man könnte, ja man könnte noch weiter hoch gehen und den Ausblick auf dieses Plateau von weiter oben genießen. Aber ne, das machen wir garantiert nicht. Bei unserem kleinen Rundgang meiden wir stur jede Steigung.
Eine knappe Stunde verbringen wir hier und fühlen uns wieder erholt. Es ist Zeit für den Abstieg. Das erste Stück zum Mestia-Kreuz ist eigentlich nicht sonderlich schwer. Auf dem staubigen Untergrund rutschen wir ein wenig und merken, wie steil der Aufstieg eigentlich wirklich war. Ganz schön extrem, wirklich. Der Hinweis im Reiseführer ist sehr begründet gewesen. Ein wenig tun uns auch die schnaufenden Wanderer mit hochroten Köpfen leid. Es gibt aber auch einige "Füchse", die sich bis fast nach oben hochfahren lassen. Eine Frau steigt aus einem Geländewagen. So wie sie ausschaut, wäre sie auf einer Cocktailparty weniger deplatziert. Sie trägt eine H&M-Tüte spazieren. Komische Gestalten, die uns hier begegnen.
Das Mestia-Kreuz kommt in Sichtweite, der Blick auf das Tal wird wieder frei. Wir machen noch kurz Rast und wollen den anderen Weg herunter nehmen. Den, den die anderen Berliner hinauf gekommen sind, in der leisen Hoffnung, dass es angenehmer wird als der Weg, den wir hoch genommen haben. Der scheint uns nämlich zu steil für den Abstieg. Wie sehr werden wir uns auch hier irren. Der Abstieg ist die Hölle. Die Knie und Schienbeine schmerzen. Man spürt jeden Quadratzentimeter von der Hüfte abwärts. Wie würden wir uns über vernünftigen Untergrund freuen.
Der Abstieg verlangt uns tatsächlich nochmal alles ab. Je größer die Dächer Mestias und die Wehrtürme werden, desto stärker ziehen wir das Tempo an. Zu groß ist die Vorfreude auf asphaltierte Straße. Es - nimmt - einfach - kein - Ende! Mittlerweile wissen wir nicht mehr richtig was anstrengender ist. Der Auf- oder der Abstieg. Wären wir bloß unserem Instinkt gefolgt und hätten auf Strecke statt auf Höhe gemacht, staubig oder nicht, ganz egal!
Bei Regen oder bei Nacht ist das hier sicherlich lebensgefährlich. Was machen die Leute denn, wenn sie vom Regen überrascht werden? In der Freude, dass es trocken ist, sehen wir die Spitzen der ersten Wehrtürme fast auf Augenhöhe. Nur noch den Feldweg hier entlang. Wir kommen am Kiosk vorbei, an einem Restaurant und einem Heimatmuseum, noch 100 Meter, dann sind wir auf Asphalt.
Alles tut weh, wir sind klitschnass geschwitzt aber wahnsinnig froh und ein wenig stolz über die heutige Tour. Eine Dusche scheint nun die willkommene Belohnung zu sein. Die kleinen Freuden eben, die manchmal zu den schönsten Geschenken werden können.
Abends im Café Laila blicken wir wieder zurück auf die Wahnsinnswanderung: 15,3 Kilometer, 1340 Höhenmeter, 7 Stunden, unzählige Eindrücke. Zum Glück steht morgen keine weitere Wanderung mehr an. Wir haben alles richtig gemacht: Richtige Reihenfolge, richtiges Timing, letzten Endes sogar richtiges Tempo.