Island geizt bekanntlich nicht mit seinen Motiven. Aber es ist wie mit dem Pilzesammeln. Sie sind plötzlich da, man muss sie nur einsammeln, wenn man sie sieht. Um dieses Sehen geht es auch in der ersten Hälfte der Reise. Es soll ein kleines Stückchen auch ein "Bildungsurlaub" werden. Tückisch, denn hier ist es, als wäre der ganze Waldboden mit Pilzen übersät. Welche sammelt man ein, welche lässt man lieber stehen? Es wird zu einem kleinen Selbstexperiment, in dem Zeitmanagement, geleistete Vorbereitung und der Drang, sich dem Spontanen hinzugeben, in drei verschiedene Richtungen zu ziehen scheinen.
Das Krähen der Hähne und das Blöken der Schafe ist durch die dünnen Wände des Chalets zu hören. Meine erste Unterkunft ist ein voll ausgestattetes Häuschen. Ungefähr die Größe einer viertel Gartenlaube. Bett, Tisch, Bad und sogar ein Fernseher. Es riecht intensiv nach Nadelholz. Als ich gestern ankam, dachte ich, es wäre ein Raumduft. Aber es ist das Holz, das so gut riecht! Es ist 7:28 Uhr. Begleitet vom tierischen Weckruf stehe ich ganz knapp vorm Wecker auf. Durch die verschlossenen Vorhänge dringt kaum Licht hinein. Der goldene Glanz des Morgenlichts ist nur durch einen winzigen Spalt zu erahnen. Kurz darauf spaziere ich auf das Feld hinaus, das vor den fünf Chalets liegt und normalerweise als Parkfläche dient. Neuerdings aber nicht: Es hätten sich wohl Leute festgefahren. Die gestern noch aufgeschlagenen Zelte der Camper sind mittlerweile verschwunden. Vom Feld hat man einen unglaublichen Blick über das vom Krossá durchschnittene Tal. In der Ferne grasen lautlos die Pferde. Besser kann man gar nicht begrüßt werden.
Ich bin noch unschlüssig, wo es als Nächstes hingeht. Zwar frage ich wegen einer Verlängerung nach, man bietet mir ein Hotelzimmer statt des Chalets an, aber eigentlich zieht es mich weiter ostwärts. Vorher schaue ich mir noch einige nahe gelegene Orte an, die ich gestern der Dunkelheit wegen gar nicht wahrgenommen habe: Eyrarbakki und Stokkseyri. Es sind zwei kleine, niedliche, verschlafene Örtchen. Ersteres tags- und nachtsüber zu erkennen an dem dominanten Gefängnis, dem größten der friedlichen Insel. Rückwegs, wieder in Richtung Osten, mache ich Halt am Wasserfall Urriðafoss. Ein stolzer Vorgeschmack auf die vielen weiteren "Fosse" der Insel.
Die südliche Ebene der Insel lässt immer wieder erahnen, wie mächtig die Hochebene sein muss. Die Ausläufer des Gebirges kündigen sich durch das milchig-gelbe Tageslicht als große, kantige "Fremdkörper" an. Zwischendrin immer mal wieder ein imposanter Gletscher. Der Seljalandsfoss, einer der bekanntesten Wasserfälle Islands, ist schon aus der Ferne zu sehen. Ich fahre erst einmal bewusst daran vorbei, möchte heute Abend wiederkommen. Während der hochstehenden Sonne checke ich erstmal in der neuen Unterkunft ein. Sie befindet sich kurz hinter dem Eyjafjallajökull in direkter Nachbarschaft zum Drangurinn, einem sagenumwobenen Tuffstein, der einsam im geschützten Talkassel steht. Über die Zeit haben sich kleine Häuschen direkt am Sockel des Steins und dessen Höhlensysteme angedockt, deren Ruinen noch heute zu besichtigen sind. Sagenumwobene Geschichte und sagenhafte Landschaft gehen hier Hand in Hand.
Das Hotel ist eher von der melancholischen Sorte. Die Lobby ist gut beheizt, Zimmer gibt es viele, es liegen zwei Notizen samt Schlüsseln auf dem Tresen. Als ich die polnische Rezeptionistin später antreffe, hake ich nach, wie viele der Zimmer hier belegt wären. Sie erzählt etwas verlegen, dass nur ein amerikanisches Ehepaar und ich hier sind. Die beiden Notizen eben. Auf der Buchungsseite schien das Hotel fast ausgebucht. Wenn der Wind durch's Tal fegt, klingt eine eigenartige Melodie im Haus. Es ähnelt einer Tonleiter. Sie kommt über's Abwasserrohr. Sehr eigenartig, aber irgendwie harmonisch. Ich dachte ursprünglich an jemanden, der in einem Nachbarzimmer auf der Trompete übt. Den Abend verbringe ich am Seljalandsfoss. Alle Register sind gezogen: Regenhose, Regenjacke, schützende Hülle für die Kamera. Das Besondere ist nämlich, dass man bis hinter den Wasserfall gehen kann. Die Fotografenscharen gehen trotzdem freundlich miteinander um. Einige von ihnen verharren wohl schon länger in der Gischt und warten auf den perfekten Moment. Dessen Eintreffen wird immer unwahrscheinlicher. Im Südwesten befindet sich, nah am Horizont, eine dicke Wolkenschicht.
Die Wolken durchkreuzen auch meine Pläne. Auf dem Weg zum Seljalandsfoss habe ich mir ein paar Landmarken bereitgelegt, die ich gerne zur blauen Stunde fotografieren würde. Auch das wird heute nichts mehr, es wird schneller dunkel, als erwartet. Ich begnüge mich mit einer kurzen Stippvisite zur Eyvindarhólakirkja. Eine kleine, abgelegene Kirche Einfach um sie mal aus der Nähe zu sehen. Sie ist hier eine markante Landmarke. Das Fotomotiv wird letztendlich aber das Auto in der Landschaft
Als ich nun beginne, diesen Text zu schreiben, ist die Nacht sternenklar. Von Nordlichtern keine Spur. Später dann werfe ich einen letzten Blick aus dem Fenster. Es wäre schon ärgerlich, wenn die Sonnenstürme über meinem Kopf gerade alles geben und ich einfach nichts mitbekomme. Von dieser Seite des Hotels sieht man kaum etwas, zu hell ist die Beleuchtung des Hauses. Aber man kann es zumindest erahnen. Milchige Schlieren, die eher aussehen wie dünne Wolken in der Lichtverschmutzung einer Großstadt. Das kann nun wirklich nicht sein bei der dünn besiedelten Gegend. Ich packe mich wieder in die warmen Klamotten, um den zwei Grad Außentemperatur etwas entgegenzusetzen, Selbstauslöser, Kamera und Stativ ein und richte an einer dunkleren Stelle des Hofes meinen Blick in Richtung Himmel. Er ist in allen Richtungen übersät mit diesen schwach leuchtenden, hellgrauen Schlieren. Größtenteils sehen sie wirklich aus wie Wolken. Ab und zu aber blitzt es zwischen ihnen schwach auf und sie ordnen sich teilweise neu an. Zum Beschreiben der Magie dieses Moments fehlen mir ehrlich gesagt die Worte. Magie ist das Schlüsselwort. Ich weiß zwar, was da physikalisch vor sich geht, aber es lässt mich alles andere als kalt. Mittlerweile ist es auch halb drei. Zeit, um genauso zufrieden und motiviert ins Bett zu fallen, wie ich aufgestanden bin.