Es sind ja gar nicht so viele Kilometer, die ich heute fahren möchte. Nein, anders: Ehrlich gesagt weiß ich das Ziel noch gar nicht. Aber viele werden es nicht werden. Was ist denn "viel"? 60, 100, 270 Kilometer? Alles immer noch jenseits dessen, was ein Deutscher auf seine Reise als "Vielfahren" bezeichnet, ein Amerikaner sowieso. Um das Fahren geht es ja auch nicht. Und in jeder Staffelung - 60, 100, 270 - bekommt man einen Tag, mehrere Tage oder sogar Wochen gefüllt. Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass jeder Ansatz einer Reiseplanung für Island scheitern wird, wenn man nicht bereit dazu ist, die Messlatte an die Schönheit des Gesehenen so hoch zu setzen, dass man nicht ständig anhalten möchte.
Ich beginne meine heutige Reise am Skógafoss, gleich auf der anderen Seite des Berges, keine fünf Fahrminuten entfernt. Von vielen Reisenden wird er als beeindruckendster Wasserfall Islands bezeichnet. Unter ihm stehend ist man seinem Donnern ausgeliefert, wenn die Wassermassen auf 15 Metern Breite 60 Meter in die Tiefe stürzen. Noch unter dem gestrigen Eindruck des Seljalandsfoss stehend, frage ich mich, wie viel Wasser täglich wohl zusammengenommen vom isländischen Hochland ins Meer fließt. Ich reihe mich in die lange Kette der schnaufenden Touristen ein und steige die vielen Treppenstufen bis an den Ort, an dem der Fluss für die Dauer des Falls zum Skógafoss wird. Er ist der letzte einer ganzen Kaskade von Wasserfällen, die man auf dem hier beginnenden Wanderweg erwandern kann. Ich halte mich hier fast zwei Stunden auf, vergesse die Zeit bei der Motivsuche und sehe viele Leute kommen und gehen. Als ich wieder die vielen Schritte entlang des wackeligen Treppe heruntergehe, werden es immer mehr Besucher. Aber auch die Lichtstimmung ist eine ganz andere, als weiter oben und auch als vorhin: Kühler, und aus der Gischt des Wasserfalls ragt ein halber Regenbogen hinaus.
Als ich wieder auf der löchrigen Piste in Richtung Ringstraße aufbreche, ist mir klar, dass das heute kein schnelles Vorankommen wird. Und das ist mir auch recht. Die Gegend um den Berg Pétursey ist interessant, halb bäuerlich und halb touristisch geprägt und doch ein wenig anders, als der Rest der Tiefebene. Ich halte entlang der Ringstraße immer mal links und rechts an, je nachdem, wo es geht. Leider geht das nur an den allerwenigsten Stellen. Und die eine oder andere Stelle verpasse ich auch, weil sie nicht ersichtlich ist. Mittlerweile führt die Straße in die Hügellandschaft. Es sind nur noch 50 Kilometer pro Stunde vorgeschlagen, wenn ich die blauen Schilder richtig interpretiere: Es ist kurvig und die Straße hat teils eine Steigung von 10 Prozent. Durch's Rückfenster sehe ich die Sonne wieder durch die Wolken brechen. Meer, Fluss, grüne Landschaft und Berge auf einmal. Fehlt nur noch der Gletscher.
In Vík mache ich eine kurze Tankpause und versorge mich mit Backwaren. Es ist ein malerischer Ort und zu 100 Prozent auf den Tourismus ausgelegt, so scheint mir. Tankstelle, Supermarkt, Boutiquen, Hotelneubauten, (Schnell-) Restaurants sieht man hier sonst auf der Insel nur spärlich. Der Supermarktparkplatz grenzt direkt an den schwarzen Strand des Ortes. Die Luft ist dunstig, die Wellen schlagen hoch. Ein wenig wie im korsischen Porto. Bloß deutlich kühler.
Jetzt, wo auch die Sorge um den leer gefahrenen Dacia Duster beruhigt ist, fahre ich die wenigen Kilometer zurück über die Hügel hinter dem Berg Reynisfjall nach Reynisfjara. Überall warnen Schilder vor herunterfallenden Steinen und "sneaker waves". Also Wellen, die aus dem Nichts aus dem Wellenzug auftauchen und eine vermeintlich kleine Welle um das Vielfache vergrößern. Ich wusste nicht, dass die einen Namen haben, achte aus irgendwelchen Gründen aber immer automatisch darauf, ob eine Welle nochmal an Fahrt aufnimmt. Einer Touristin geht es da ganz anders, sie landet mit kompletter Ausrüstung im Wasser. Immerhin kann sie sich darüber amüsieren. Der berühmte schwarze Strand liegt dem tosenden Meer ausgesetzt knapp südlich von Vík. Das berühmteste Fotomotiv ist wohl die imposante, dreieckige Höhle, umgeben von markanten sechseckigen Basaltsäulen. Je weiter unten, desto ausgewaschener die Form der Säulen. Vor der Küste stehen die markanten Brandungspfeiler, drei spitze Basaltsäulen, im Meer. Wenn man die Touristen im hinteren Teil des Strandes ausblendet, ist die Szenerie komplett farblos: Weißer Himmel, schwarzer Strand, schwarzer Fels, graue Gischt, graues Meer, weiße Wellen.
Beim Tankstopp hatte ich bereits meine nächste Unterkunft gebucht. Knapp 90 Kilometer entfernt von hier in Kirkjubæjarklaustur. Auf dem Weg dahin möchte ich kurz oberhalb der Vikurkirkja Halt machen. Es ist die Kirche, die Vík inmitten der grünen Landschaft den obligatorischen kleinen Dorfkirchklecks gibt. Ein sehr bekanntes Fotomotiv und schwerer zu erreichen, als gedacht. Zum Parkplatz des Friedhofs, von dem man den imposanten Blick hat, führt ein ziemlich holpriger, steiler Pfad auf die Spitze des Hügels.
Nun ist aber auch gut, die Sonne verabschiedet sich allmählich, ich habe ein klares Ziel, bald wird es dunkel. Und obwohl der Himmel mit grauen Wolken verhangen ist, kippt plötzlich die komplette Lichtstimmung in ein warmes Pfirsichrosa. Ich weiß nicht, ob es vom Sonnenuntergang selbst oder von der Landschaft kommt. Aber es ist wie auf einem anderen Planeten, als würde Sandstaub die Luft färben oder was auch immer. Je tiefer ich in die vulkanisch geprägte Ebene in Richtung Kirkjubæjarklaustur fahre, desto mehr übernimmt das Rosa des Pfirsichrosas, bis es plötzlich stockfinster wird. Von der Landschaft der letzten 20 Kilometer bekomme ich nichts mehr mit, sondern orientiere mich nur an den reflektierenden Straßenbegrenzungen. Irgend wann dann endlich ist die Handbremse gezogen, das Gepäck liegt im spartanischen Zimmer. Einige Stromausfälle später (und der unbegründeten Hoffnung auf gut sichtbare Polarlichter) blicke ich im Bett liegend zurück auf wahrscheinlich einen Bruchteil der Farb- und Schwarzweißpalette, die Island zu bieten hat