Mir war schon klar, dass Island abwechslungsreich ist. Welche Rolle die Ringstraße da übernimmt, habe ich nicht geahnt. Es ist mehr als ein Transportweg, eher eine Ansammlung von Portalen durch unterschiedliche Welten. Die Landschaft ist erstmal da. Aber je nachdem, wann du dich dort befindest, existiert sie eben in der einen, oder einer der vielen anderen Ausprägungen. Fährst du in die andere Richtung, öffnet sich ein ganz anderer Satz an Welten.
Auf dem Weg zum Frühstück habe ich zum ersten Mal gesehen, in welcher Landschaft ich mich überhaupt befinde. Gestern war schon alles stockfinster. Es ist eine hügelige, grüne Landschaft umgeben von vielen kleinen Seen. Die Hügel sind sanft und wirken auf den ersten Blick wie eine riesige, fantasievoll gestaltete Golfanlage. Als würden sie mit der Schere Grashalm um Grashalm bearbeitet werden. Dabei vergesse ich, dass das ja größtenteils Moos ist. Die Gegend ist, wie alles andere hier natürlich auch, das Ergebnis vulkanischer Aktivität. Einigen Gegenden sieht man das besonders an. Kirkjubæjarklaustur ist eine davon. Umso beeindruckter bin ich aber, je mehr ich über die Geschichte des nahe gelegenen Vulkans Laki lese, der dem Hotel auch seinen Namen gibt. Dessen Eruption im 18. Jahrhundert sorgte für Hungersnöte weltweit, etwa durch den Einfluss auf die Niederschlagsmengen in Afrika und Asien. Mit dem beim Frühstück angelesenen "Wissen" treibt es mich etwa 130km weiter ostwärts in Richtung Jökulsárlón. In der Vorbereitung hatten wir uns da wenige Wegmarken reingelegt. Reingelegt fühle ich mich auch, als ich alle zwei Kilometer einen Halt einlege. Die Landschaft wechselt ihr Gesicht nach jeder Kurve, als könnte sie sich nicht entscheiden. Sie beginnt sattgrün, ist dann hinter der nächsten Kurve geprägt von erodierten, mit gelblichem Moos bewachsenen Felsen. Die Gletscherflussläufe winden sich hier durch den schwarzen Sand.
Als ich am Straßenrand halte, spricht mich ein etwas älterer Mann an, der leicht hektisch durch die Landschaft rennt: "There is a beautiful reflection, you have to go there". Er hat zwei Kameras umgeschnallt und ein iPhone in der Hand. Seine Frau harrt gelangweilt auf dem Beifahrersitz des roten SUVs aus. Der Motor läuft noch. Es ist nicht die erste Szene dieser Art.
Als ich dann in einer langen, flachen Ebene ankomme, führt die Straße kerzengerade bis zum Horizont, macht dann leicht eine Biegung und das Spiel wiederholt sich. Linkerhand der Straße ist die Landschaft mit gelbem Gras übersät, rechterhand pechschwarzes Gestein. Bäume habe ich hier noch nirgends gesehen. Wo kein Gras wächst oder die Steine nicht nackt sind, ist Moos. Moos ist auch etwas, das mit Island unweigerlich zusammenhängt. Ich hatte noch nicht so viel Erfahrung damit. Man tritt weich. Wenn man mit der Hand darüberstreicht, fühlt es sich unwahrscheinlich weich an. Ironisch, in einer so schroffen und harten Umgebung. Ich nähere mich den zahlreichen Gletschern um Svínafell, die von der riesigen Eiskappe des Vatnajoküll hinabgleiten
Parallel zur Ringstraße werden neue Brücken errichtet. Viele der (scheinbar Behelfs-) Brücken sind nur einspurig. Einige Brücken sind dem Gletscherabgang vor einigen Jahren zum Opfer gefallen. Alte, verbogene Brückenteile mahnen an Rastplätzen an dieses Ereignis. Die Luft im Dacia wird immer kühler, ich nähere mich dem Ziel: der Gletscherlagune Jökulsárlón. Schilder warnen den Reisenden vorm Baden, Besteigen der Eisberge, Verlassen der ausgewiesenen Wege und so weiter. Ich befinde mich an dem Flecken Islands, der mich so nett durch's Flugzeugfenster begrüßt hat. Die mächtigen Eisberge treiben friedlich in der Lagune herum. Als ich mich einem älteren amerikanischen Pärchen nähere, weisen sie mich sofort darauf hin, dass da vorne ab und zu Robben auftauchen. Leider werde ich sie nicht sehen. Das Ufer des Sees ist übersät mit Eisbrocken. Jeder Tritt am Ufer hört sich erstaunlich "hohl" an. Ich frage mich, ob ich gerade auf einer Eisschicht entlangspaziere oder festen Boden unter den Füßen habe.
Das Wasser des großen Sees fließt durch ein Verbindungsstück direkt ins Meer. Der Strand, der zwischen Gletschersee und Atlantik liegt, wird als Diamond Beach, "Diamantstrand", bezeichnet. Diese schwarzweiße Melancholie zieht mich an, wie ein schwarzes Loch, als ich vom Parkplatz in Richtung Strand stakse: Der strukturierte, dunkle Strand und der weiche, konturlose Himmel, den die Sonne im gedeckten Weiß zum Glühen bringt. Dazwischen der Atlantik, der im diffusen Sonnenlicht glitzert. Links davon liegen Eisbrocken in verschiedensten Größen wie tröpfelnde Rohdiamanten im schwarzen Sand. Die meisten davon sind kantig und definiert. Andere sind glatt und glasig-glänzend. An der Stelle, in der das Süßwasser ins Meer strömt, kämpft der Strom gegen die Wellen des Nordatlantiks. Immer mal wieder schwappen dicke, kräftige Wellen auf den schwarzen Strand und umspülen das Eis. Wo das Eis nicht durchsichtig glitzert, bricht das Licht subtil zu einem edlen "Arktischblau".
Ich halte mich eine lange Zeit am Diamond Beach auf. Auf dem Rückweg scheint mir die Landschaft wieder so unbekannt. Als hätte jemand in meiner Abwesenheit das Bühnenbild ausgetauscht. Das mag nicht nur an der Richtung liegen, sondern vielmehr an dem Licht. Die Sonne bricht durch die Wolken. Sie schafft es nur stellenweise, einige Stellen kurzzeitig auszuleuchten. Inmitten des Mooses finden sich bunte Pflanzengruppen, die gegen das schwarzgraue Geröll die monochrome Buntheitsbalance aufrecht erhalten. Auf dem Hinweg hatte ich mir einige Landmarken eingeprägt, an denen ich eigentlich halten wollte. Davon finde ich aber nicht viele.
Der Berg Lómagnúpur, den ich vorher noch mit der "beautiful reflection" fotografiert habe, liegt mittlerweile in die dichte, tief hängende Wolkendecke eingegraben. Heute habe ich wieder die komplette Farbpalette durch und nähere mich der gepflegt erscheinenden Hügellandschaft um das Hotel Laki.