Reiseskizzen Island 2022

Heimförin

Dauerregen. Als ich mich im Auto einrichte und der melancholische Beat von Ásgeirs "Heimförin" einsetzt, ist das Prasseln der Regentropfen deutlich zu hören. Ein Tag in gedeckten Farben. Kleiner Kurzurlaub für die Augen, denke ich. Und doch ein bunter Tag. Es werden tausende Grau-, Grün- und Blautöne werden. Mal in Konkurrenz zueinander, mal in Harmonie. Bunt auch, weil das Erzähler-Ich bald zum Wir wird. Vielleicht ist der Tag ein klitzekleines Bisschen der Beginn einer "Heimfahrt".

Man kann sich kaum sattsehen an der Landschaft, die ständig im Wandel zu sein scheint. Selbst die diesig-trübe Stimmung über der grünen, hügeligen Landschaft hat etwas Zauberhaftes. Es scheint die ganze Nacht hindurch stark geregnet zu haben. Heute wird sicherlich wieder die Regenjacke zum Einsatz kommen. Doch diesmal hat der Wasserfall die Größe eines nordatlantischen Regenbandes. Es weht ein unangenehmer Wind, doch der Regen lässt nach, als ich mich auf den Weg zum Frühstück ins Nachbargebäude begebe. Ich versuche mich weitestgehend zu stärken, der Hunger lässt mich aber ein wenig im Stich. Beim Beladen des Autos regnet es wieder stärker.

Als ich vom Hotel westwärts auf die Ringstraße biege, befinde ich mich auf der Strecke, die mir während der Anfahrt in der tiefschwarzen Nacht verborgen blieb. Es ist die grüne, mit vielen kleinen, sanften, aber definierten Hügeln überzogene Landschaft, die sich noch einige Kilometer westwärts fortsetzen wird. Eben jene, in der sich auch das Hotel Laki befindet. Nach etwa zwanzig Kilometern biege ich links in eine unbefestigte Seitenstraße. Die Schilder weisen nach Álftaver. Ich folge ihr einige hundert Meter und bleibe am Straßenrand stehen. Die Musik verstummt, es bleibt das stete Prasseln des Regens auf dem Autodach. Es ist kalt und ich steige nur widerwillig aus dem Auto. Der dichte, grüne Grasteppich ist hier deutlich kahler, als noch einige Kilometer zuvor. Zahlreiche schwarze Stellen blitzen durch den zuvor makellosen Teppich. Es sind Brocken aus erkalteter Lava und der blanke Boden selbst. Auch die Hügel sind hier nicht mehr makellos rund geformt, sondern nach oben hin spitz zulaufend. Sie haben deutlich ausgeprägte Krater, sehen aus wie Minivulkane und haben die Größe von einigen wenigen Einfamilienhäusern. Das hier ist eine besondere Landschaft. Was wie kleine Vulkane aussieht, sind sogenannte Pseudokrater. Sie entstehen bei Vulkanausbrüchen, wenn der noch heiße Lavastrom über den mit Wasser getränkten Boden fließt, erstarrt und der Wasserdampf darunter die Lavaschicht mehrere Male aufsprengt. Passiert das nur einmal, entstehen die makellos runden Hügelchen. Als ich ostwärts unterwegs war, wirkte die Landschaft im Sonnenuntergang und der schnell voranschreitenden Abenddämmerung zwar auch vulkanisch geprägt, aber eher steinwüstenartig. Einige Kilometer weiter westwärts bestätigt sich dieser Eindruck. Aber auch nur teilweise. Denn die "Steinwüste" würde ich jetzt eher als eine Landschaft aus flachen Lavadünen beschreiben. Die "Minivulkane" bilden die imaginäre Grenze zwischen der Hügel- und der Dünenlandschaft. Wieder das Gefühl des ausgetauschten Bühnenbilds. Wahnsinn, wie wandelbar die Eindrücke sind. Würde ich noch einmal hier vorbeifahren, sähe es vielleicht ganz anders aus.

Kurz vor Vík lasse ich die Lavaebene hinter mir. Rechterhand ragen die Berge imposant aus dem isländischen Boden. Ich halte wieder in einer Seitenstraße. Sie ist löchrig. Die Schlaglöcher sind mit trübbraunen Wasser gefüllt. Wo es geht, manövriere ich um sie herum. Nebenan befindet sich eine Baustelle. Es scheint sich um irgendwelche Bohrungen zu handeln. Es ist die Stelle, an der zuletzt eine weit sichtbare Dampffontäne aus dem Boden sprudelte. Ich mache vor einem riesigen Schlagloch halt, das die Breite der kompletten Straße einnimmt. Vor mir befindet sich der Uxafótafoss. Der Uxafótafoss fließt in Kaskaden entlang einer kleinen Schlucht aus dem wolkenumhüllten, grün bewachsenen Lavamassiv und speist einen kleinen Bach, der sich an mehreren Stellen in der Wiese verzweigt. Es nieselt nur, es ist aber diese Art von dichtem, penetrantem Nieselregen, bei dem nach wenigen Sekunden bereits alles klitschnass ist. Den kleinen Fotostopp lasse ich mir dennoch nicht nehmen. Ich bin glücklich um die Wanderschuhe, die trotz knöcheltief durchgeweichter Wiese zumindest meine Füße trocken halten. Im Nieselregen werden die Hände schnell kalt, ich kämpfe ein wenig mit dem Trockenhalten der Fotoausrüstung. Ständig wische ich mit dem Tuch über den am Objektiv angebrachten Filter.

In Vík halte ich nur ganz kurz zum Tanken an. Diesmal weiß ich ja, wie es geht. Trotz des unangenehmen Wetters möchte ich nun auf dem Rückweg auch die Halbinsel Dyrhólaey besuchen. Auf dem Weg dorthin überquert man einen schmalen Damm, um anschließend in eine extrem steile Serpentinenstraße einzubiegen. Wie in einem gewundenen Parkhaus arbeitet man sich Meter um Meter mit einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h der schönen Aussicht entgegen. Die Regencapes und Jacken der übrigen, stark nach vorn gebeugten Besucher flattern hektisch im strengen Wind. Jede Böe schüttelt das Auto kräftig durch. Widerwillig ziehe ich mir wieder die Regenjacke über, die noch vom letzten Halt tropft. In den wenigen Sekunden, in denen ich mich versuche im Windschatten des Autos startklar zu machen, ist die Wanderhose bereits klitschnass. Als ich am Rand der Klippe stehe und die Küste entlang blicke, peitscht mir der Regen von schräg unten ins Gesicht und unter die Regenjacke. Einzig den schlichten Leuchtturm scheint das Wetter nicht zu beeindrucken. Für mich wird es nur eine kleine Stippvisite. Gern hätte ich mich länger hier aufgehalten, zu groß ist das Verlangen, aus dem Regen herauszukommen.

Die letzten knapp 130 Kilometer bis Selfoss, dem heutigen Etappenziel, wird sich am Wetter recht wenig ändern. Teilweise bläst der Wind so stark durch das Tal, dass man kräftig gegensteuern muss, um nicht von der Straße geschoben zu werden. Das Plateau des Berges Petursey ist nicht zu erkennen, er verschwindet in den Wolken. Wo vor einigen Tagen noch die klaren Konturen der Westmännerinseln aus dem Atlantik ragten, ist jetzt nur ein Einheitsgrau. Trotzdem fahre ich den kleinen Umweg in Richtung Fährhafen, um vielleicht doch noch einen Blick zu erhaschen. Das hätte ich mir sparen können, verlasse nicht einmal das Auto. Die Wellen peitschen Meterhoch über die Wellenbrecher. Ich habe den Eindruck, dass ich hier ohnehin die einzige Person bin, Fährbetrieb ist jetzt sicherlich nicht. Früher als geplant komme ich in dem modernen Hotelzimmer in Selfoss an. Der Check-In läuft komplett ohne Menschenkontakt über einen Pincode. Doch die Mails, die ich von der Unterkunft erhalten habe, sind derart widersprüchlich, dass dann doch die angegebene Telefonnummer bemüht werden will. Entgegen der Erwartung führt die isländische Nummer aber ins ferne Indien. Richtig hilfreich sind die Auskünfte nicht, also bastel ich mir die Informationen irgendwie so zusammen, dass sie passen könnten. Das Wetter hat sich mittlerweile beruhigt. Doch die Motivation, durch die Stadt zu ziehen, hält sich in Grenzen. Auch ich verbuche den Rest des Tages als Ruhetag, widme mich etwas der Pflege der Ausrüstung und dem Schreiben.

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