Das Auge gewöhnt sich. Schleichend, aber beständig. Das Land hingegen brodelt, köchelt und dampft. Trends, die einander gegenüberstehen. Eindrücke, die beständig sind. Auch eine Fahrt zum Flughafen kann beeindruckend sein. Den Superlativ erfährt man wahrscheinlich hier, mitten im Atlantik. Meine Fahrt zum Flughafen beeindruckt mich beständig. Island ist unfertig, Island überrumpelt, Island ist eine einmalige Erfahrung.
Hinter den schweren Vorhängen des Hotelzimmers rauscht der dichte Verkehr. Als ich sie zurückziehe, sehe ich durch die große Fensterfront eine Szene, wie ich sie auch in einer durchschnittlichen mitteleuropäischen Kleinstadt mit Industriegebiet erwarten würde: graue, triste Gebäude, eine verregnete Straße, auf ihr Fahrzeuge in einer endlosen, engmaschigen Kette. LKW und PKW, die sich vorwiegend westwärts bewegen. Nur die Reklame des gegenüberliegenden Supermarkts schreit förmlich: "Du bist in Island, wir sind opið!". Ganz langsam packe ich meinen Kram für den Tag zusammen, nehme eine schweflige Erdwärmedusche und schnappe mir schließlich ein Schinkencroissant auf dem Weg zum Auto beim Bäcker nebenan. Der Bäcker strahlt etwas Hyggeliges aus. Freundliches Personal, warme Farben, einladendes Inneres. Wie alle Bäcker hier. Es ist kurz nach zehn und ich bin später dran als geplant, aber immerhin gut erholt. Kreisverkehr um Kreisverkehr wird der Verkehr lichter. Am Stadtrand von Selfoss verabschiedet mich das letzte Neubaugebiet. Plötzlich ist die Straße nur noch eine Betonschiene durch eine unwirtliche Landschaft. Kurz darauf folgt eine sehr langgezogene Rechtskurve. In Eyrarbakki möchte ich tanken, verpasse aber den Stopp, denn ich dachte, die Tankstelle läge gut sichtbar in Nähe der Straße. Umkehren möchte ich jetzt aber nicht mehr. 160 Kilometer Restreichweite sollten locker bis zur nächsten Tankgelegenheit reichen. Licht und Wetter erinnern heute an einen typischen Apriltag: Immer mal wieder schauert es, kurz darauf strahlt die Sonne kräftig durch die Wolken. Die frisch-nasse Fahrbahn glänzt und blendet, sobald man gegen die Sonne schaut. Ab und zu halte ich an. In der Ferne liegt das grüne Meer als schmaler Streifen zwischen dem graublauen Weich des Himmels und dem schwarzgelben Schroff der Vulkanlandschaft. Dazwischen hebt sich der orange Leuchtturm ab. Bis auf die wenigen vorbeirauschenden Autos der einzige Hinweis auf Zivilisation. Eine ruhige Szene, den Wind sieht man nicht.
Ich trete weich. Und ich versuche das Moos nicht zu zertrampeln. Wie war das? Es wächst nur 2 Millimeter pro Jahr? Als ich über den harten Asphalt der Straße zurück in Richtung Auto gehe, sehe ich, wie sich das Licht auf der anderen Straßenseite in der feuchten Luft in allen Farben bricht. Sanft, aber doch deutlich zeichnet sich ein Regenbogen vom graublauen Himmel ab. Eine lange Zeit rauscht kein Auto vorbei. Sekunden kommen wie Stunden vor. Auf eine schöne Weise. Eine lange Zeit weht kein Wind. Absolute Stille. Zeit, um einfach nur zu gucken und zu genießen.
Je länger ich mich auf der Insel aufhalte, desto mehr bekomme ich den Eindruck, dass alles Schöne hier zusammentrifft. Island scheint der Prototyp der Schönheit zu sein. Und doch nimmt man's im Augenblick für selbstverständlich wahr. Den Motor startend merke ich, dass schon wieder 10 Kilometer bei der Restreichweite fehlen. Es sind noch etwa 30 Kilometer bis zu meinem nächsten Ziel. Weit und breit ist keine Tankstelle. Weitere 50 Kilometer bis zum Flughafen. Es macht mich etwas nervös. Für Umwege wird die Zeit etwas eng. Um zwei möchte ich Teresa vom Flughafen abholen. Grindavík liegt dann zum Glück auf dem Weg. Die Hoffnung, dass die Tankanzeige nicht lügt, ist groß. Nur wenig der Landschaft erinnert an den Eindruck, wie ich ihn auf meiner allerersten Fahrt hatte. Im gedämpften Licht wirkt alles gewöhnlicher, nur ganz wenig wie eine Marslandschaft. Als würde man alles durch einen blaugrünen Farbfilter sehen. Ich biege rechts ab, nur noch wenige Kilometer bis zu den Thermalquellen Seltúns. Rechterhand ist ein offensichtlich leerstehendes Industriegelände. Linkerhand dann der Parkplatz. Alle Autos sind weiß, viele davon Dacias desselben Modells, das ich auch fahre, wahrscheinlich alles Touristen.
Vom Parkplatz aus trete ich auf die hölzernen Stelen. Ein Schild warnt vor den Gefahren: "Alles heiß, bitte Weg nicht verlassen". Der erste Eindruck ist bombastisch. Man ist gehüllt in einen warmen Schwefeldampf. Nichts davon fühlt sich unangenehm an. Im Gegenteil. Leicht durchgefroren vom sitzenden Fahren freue ich mich über die warmen Eindrücke. Das den Berg hinabfließende Wasser brodelt. Der Boden wirft Blasen. Es blubbert und sprudelt überall! Unwirklich, wenn man aus Mitteleuropa kommt. Als hätte man die Erde aufgerissen. Unweigerlich fragt man sich, wo die Wärme herkommt. Wahrscheinlich erst recht, wenn hier überall Schnee liegt. Schritt für Schritt auf den hölzernen Stelen kommt mir eine Erinnerung nach der anderen: Vom Anflug, dem ersten Eindruck der Insel, den dampfenden Stellen im schroffen Boden. Das hier ist eine davon. Und andererseits das viele Gletschereis, das ich aus dem Flugzeugfenster gesehen habe. Anders als alles andere, was ich kenne, fühlt sich dieses Land unfertig an. Wechselhaft und launisch. Wie ein Teenager, der sich zu finden versucht. Ein Land in seiner Pubertät: Auf nichts ist Verlass und doch so viele schöne, kreative Einfälle. Island ist ein Land im stetigen Umbruch: Alles vulkanisch geprägt, geologisch gesehen absolut frisch und den Launen der Natur ausgesetzt.
Jedes Detail der Landschaft ist beeindruckend. Ich verlasse die hölzernen Stelen und kraxel den schlammigen, steilen Weg auf den Berg hinauf. Schnaufend, aber zufrieden komme ich oben an. Ich blicke über die Straße, die mich hergeführt hat. Die Industriebrache, die mir auf dem Hinweg aufgefallen ist, fügt sich still in die Landschaft ein. Dahinter ein Vulkan. In der Ferne thront wieder das stille Meer zwischen gestreiftem Himmel und kontrastreicher Erde. Unter mir, inmitten des ganzen porösen Vulkangesteins, ragt ein kleiner, gelber Pilz heraus. Zusammen mit ein paar Grashalmen. Jedes Detail der Landschaft ist beeindruckend. Der Eindruck bestätigt sich wiederholt. Als ich wieder vorsichtig den rutschigen Weg talwärts gehe, biege ich links ab. Ein kleiner Bach hangelt sich hier in Kaskaden den Berg hinunter. Er ist eher kalt, brodelt nicht, Schmelz- oder Regenwasser. Einige Schritte weiter halte ich inne. Ein letzter Blick auf den dampfenden Boden, die ockergelbe Landschaft mit den vielen bunten Farbsprenkeln, den Himmel, der immer dramatischer zu werden scheint. Ich treffe eine Teamkollegin von Teresa, die mit ihrer Hostfamilie beim Sightseeing ist. Ein seltsamer Moment, wenn man an einem derart entfernten Ort einer bekannten Person begegnet. Schön und doch so absolut unwirklich.
Auf den letzten Stelen, die mich zum Parkplatz führen, fällt mir wieder dieses ironische Einheitsweiß der parkenden Autos auf. Das absolute Kontrastprogramm zu den Eindrücken, die ich die letzten anderthalb Stunden habe aufsaugen dürfen. Gelangweilt steigt hier und da mal jemand aus oder ein. Als ich ausparke, läuft mir fast eine ins Handy vertiefte Person vor's Auto. Das erste Mal seit fast einer Woche und vielen hundert Kilometern, dass ich hupe. Sie läuft unbeeindruckt weiter, hat die Situation wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Die Restreichweite fällt unter 100 Kilometer. Ich werde wieder nervös. Kurz vor der Industriebrache steht ein Mann mit knallgelber Warnweste direkt auf der Straße und bremst mich aus. Filmdreh. In zwei Minuten geht's weiter. Es werden fast 20. Wir kommen ins Gespräch. Ich frage ihn, wie er als Isländer die Landschaft wahrnimmt. "Normal", sagt er. "Für uns ist eher die europäische Großstadt beeindruckend". Nach einem Tankstopp in Grindavík und deutlicher Erleichterung passiere ich bald die Blaue Lagune, fahre dann auf den Ankunftsparkplatz am Flughafen. Ein Teammitglied nach dem anderen kommt aus der Schleuse, nur noch wenige Augenblicke und das "Heimförin" hat ein Ende. Als Teresa aus der Schleuse kommt, schlage ich vor, einen kurzen Zwischenstopp auf dem Weg nach Reykjavík einzulegen: "Heiße Quellen", sage ich. "Könnte sich lohnen". Voll besetzt fährt sich der Dacia ganz anders. Mit Gesellschaft reist es sich schöner.