Reiseskizzen Korsika 2022

Vom mediterranen Flair gefangen

Wir sind absolut motiviert dazu, gleich mit der Erkundungstour durch Bastia zu starten! Erholt genug sind wir ja. Aber nach knapp 36 Stunden Reise und effektiv nur einer neopolitanischen Pizza im Bauch ist das Objekt unserer Begierde zur Stärkung ein schönes Frühstück. Die Franzosen sagen dazu "petit déjeuner". "Kleine Mahlzeit". Ich sehe da einen kleinen Widerspruch. Woher der Spruch "Leben, wie Gott in Frankreich" auch kommt, beim Frühstück kann er nicht entstanden sein. Sei's drum, wir sind ja nicht in Frankreich, oder? Wir wollen es auf unserer Reise herausfinden.

Vor Reisebeginn haben wir uns eine kleine Erkundungsrunde durch Bastia zurechtgelegt. Sie entspricht im Wesentlichen der typischen Route, wie sie in quasi jedem Reiseführer zu finden ist. Bastias Zentrum ist so klein, da ist man zu Fuß innerhalb weniger Minuten an all den interessanten Ecken. Wie und ob wir uns einfach so treiben lassen, wissen wir noch nicht, fest steht nur, dass es am Place St. Nicolas losgeht.

Place St. Nicolas

Der Place St. Nicolas ist nicht nur Ausgangspunkt unserer heutigen Erkundungstour, sondern auch der kulinarischen Seite unserer Korsikareise. Der Platz ist der repräsentative Platz Bastias schlechthin. Uns hat es ein kleines Café angetan. Das klassische "petit dejeuner" soll uns dann doch erstmal reichen, ganz so opulent muss es nicht sein. Bei der Hitze können wir am Mittag spontan nochmal nachlegen. Trotzdem haben wir das Mahlzeitchen in der Variante "plus grande" bestellt: Zu dem Kaffee mit Croissant und Marmelade kommt noch ein Brötchen mit einem Päckchen Marmelade und Butter dazu. Fast verdoppelt für ein knappes Drittel des ursprünglichen Preises. Bis auf's Brötchen war's gut, Hauptsache wir kommen erstmal über die Runden.

Der Platz ist insbesondere aus französischer Sicht ein patriotischer Platz: Auf der einen Seite gedenkt man der Kriegsgefangenen, auf der anderen dem berühmten korsisch-französischen Eroberer Napoléon Bonaparte, dessen Name hier ohnehin allgegenwärtig erscheint. Napoléon hat gerade eine Augenbinde um. Wohl eine Anspielung auf das korsische Nationalsymbol und Symbol der Unabhängigkeitsbestrebungen Korsikas? Einen dunkelhäutigen Mann, der als ehemals Versklavter und als Zeichen seiner Freiheit die Augenbinde auf der Stirn - und nicht auf den Augen - trägt. Dazwischen ist der Platz Flaniermeile, Spielplatz, Treffpunkt, Ort der Kultur und noch vieles mehr. Gleich zwei Büchertauschhäuschen gibt es hier, die sich reger Beliebtheit erfreuen.

Rue Napoléon

Südwestlich zweigt die Rue Napoléon ab. Wir hätten sie fast übersehen. An einer Hauswand in der Nähe prangt ein großes rotes Herz, auf dem ein Paar mit Regenschirm tanzt. Darüber hinaus gleich mehrere Kondomautomaten und ein kleiner Briefkasten. Man kann hier Gedichte einwerfen, die dann den Schachteln beigefügt werden. Die Automaten sind hier deutlich verbreiteter an öffentlichen Orten aufgestellt, als wir es bei uns gewohnt sind.

Gleich darauf werden wir im wirklich positiven Sinne von der vollen Wucht des mediterranen Flairs geplättet: Unzählige winzige Details verbergen sich im Straßenbild der Rue Napoléon und den davon abgehenden Gassen: Lädchen mit korsischen Lebensmitteln, Kunsthandwerk, Boutiquen, fröhliche und interessante Menschen. In dem Setting der typisch mediterranen gedeckten Farbenfroheit entsteht ein tolle Wohlfühlatmosphäre. Am liebsten möchte man in jede der verwinkelten Gassen abbiegen und schauen, was sich dort als nächstes verbirgt.

Es ist erst kurz nach zehn und die Sonne steht fast senkrecht. Es riecht ein wenig nach warmer Enge und nach Kanalisation. Aber es riecht niemals wirklich penetrant.

In die Rue Napoléon sind an zwei Stellen kleine Plätze eingelassen: Die Vorplätze der sogenannten "Oratorien" - kleine aber ziemlich prunkvolle Gotteshäuser.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein interessantes Lokal. "Le Robaina" steht daran geschrieben. Der Außenbereich wirkt sehr einladend. Vielleicht später? Überall findet man Graffitis und Kunst an den Wänden. Vieles davon sicherlich auch lokalpolitisch angehaucht.

Place du Marché

Durch eine enge, verwinkelte aber dank der hochstehenden Sonne hell beleuchtete Seitengasse kommt man direkt auf den Marktplatz. Wir haben Glück, denn aktuell ist hier auch Markt. Die Händler bieten Gemüse, Wurstwaren, Honig, gebratene Hähnchen und Kunsthandwerk feil. Der überwiegende Teil ist lokal oder zumindest mit französischem Ursprung deklariert. Es geht hier deutlich weniger exotisch zu als etwa auf einem georgischen Basar. Im Wesentlichen entspricht der Markt tatsächlich dem heimischen Wochenmarkt. Vom Marktplatz aus gelangt man über die Rue Cardinale Viale Prelà zum Hauptportal der Église Saint Jean-Baptiste vorbei. Es ist die größte Kirche Korsikas. Dort ist gerade eine Veranstaltung. Ob Hochzeit oder etwas mit Pfingsten ist erstmal nicht zu erkennen.

Le Vieux Port

Vor der Kirche stehend führt ein schmaler Gang einige Treppen herunter. Von hier aus blickt man bereits auf den Vieux Port: den alten Hafen. Er ist dicht bepackt mit kleinen Booten und liegt geschützt und eingefasst von zwei Leuchttürmen. An der Hafenpromenade reiht sich Restaurant an Restaurant. Eines der Gebäude fällt besonders auf. Es liegt auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens und ist ein scheinbar verlassenes Hotel. Das Schild, das darauf zu Glanzzeiten hinwies, löst sich langsam auf - die Fassade auch.

Die Sonne brennt, die Schritte werden kleiner, als wir einige hundert Meter weiter auf das wuselige Treiben der Standbesitzer auf der "Fiera di Bastia", einer kleinen dreitägigen Festmeile, stoßen. Sie bauen ihre Stände auf, rühren den Crèpes-Teig an. Überall in der Stadt hängen Plakate verteilt, auf dem ein netter älterer Herr mit einem Glas Rotwein für das Fest wirbt.

Unser eigentliches Ziel liegt aber direkt über uns thronend. Wir haben die Wahl: Fahrstuhl oder Treppen. Schon vorm Fahrstuhl stehend, entscheiden wir uns doch für die Treppen und werden mit dem Anblick einer schönen Parkanlage belohnt. Während wir hinter uns blicken und Treppe für Treppe steigen, heben wir uns langsam über den alten und neuen Hafen.

Dahinter dann: die Zitadelle.

Terra Nova

Bastias Zitadelle gab der Stadt ihren Namen. Zitadellen, diese kleinen, besonders befestigten Städtchen in der Stadt, prägen viele Stadtbilder auf der Insel. Man kann hier wunderbar durch die engen Gassen spazieren und versuchen sich ein Bild davon zu machen, wie es früher einmal zuging. Vom "Place du Donjon" zum Beispiel, auf dem ehemals tricksende Händler öffentlich gedemütigt wurden, um anschließend ihren Stand zu zerstören. Dieser zerschlagene Tisch, "banca rotta", ist heute auch Namensgeber für das Wort "bankrott". Kleine Schildchen an den Häusern weisen auf berühmte Bewohner hin. Zum Beispiel auf Victor Hugo, der im Pfarrhaus neben der kleinen Kirche einige Jahre lang mit seinem Vater wohnte.

In der Kirche stehen Kinder im Altarbereich. Sie sind im Kreis versammelt und reichen ein Mikrofon rum - scheinen Fürbitten oder Ähnliches unter Anleitung eines Erwachsenen zu üben.

Mehrfach stellt sich mir die Frage, wie verklärt wir das Ganze hier als Touristen wahrnehmen. Ob die Einheimischen auch ein Auge für die Schönheit der Gassen haben, oder ob sie es ausblenden. Wie war es wohl hier, als es offenbar noch rustikal zur Sache ging?, auch mit einem gewissen verklärten Blick durch die Gassen gehen konnten und Gelegenheit hatten, das Schöne darin zu schätzen.

Über ein lautes Niesen im Park

Am Rand der Zitadelle ist ein kleiner Park mit tollem Panoramablick auf's Meer. Kinder spielen auf dem Spielplatz, eine Bummelbahn steht hier rum und wartet auf ihren Einsatz, ältere Menschen gehen gemächlich mit Stofftaschen durch die Gegend. Auf der einen oder anderen Bank sitzen Menschen. Allein oder im Doppel sich unterhaltend. Wegen der Hitze machen wir Pause unter einem der Bäume. Ich muss niesen. Stille. Das gesellschaftstaugliche Niesen haben wir uns schon lange abgewöhnt. So kommt es, dass der alte Mann, der vor einer Minute noch an uns vorbeischlurfte, plötzlich stehen bleibt. Er blickt hinter sich, sein Blick trifft mich. In seinen Augen eine Mischung aus Erschrockenheit, Entsetzen und Anerkennung. Aber auch verzweifelt nach Orientierung suchend. Dieses Geräusch schien ihm fremd. Ein weiterer alter Mann beobachtet die Szene von einer entfernten Parkbank aus. Er kommentiert das Geschehen laut rufend. Ich verstehe nicht was er gerufen hat, aber er klang amüsiert.

Und nun?

Bislang sind wir noch nicht großartig von der "Reiseführerroute" abgewichen. "Die Highlights" haben wir damit schon gesehen. Und, wie wir feststellen, mussten wir auch gar nicht von der Route abweichen. Bastias Altstadt ist derart dicht gepackt, dass man die Seitenstraßen mitgenommen hat, fast ohne es zu merken. Es stellt sich hier das Gefühl ein, dass jedes einzelne Highlight ein Geheimtipp ist. Und, dass jede Seitenstraße zu den Highlights mit dazugehört. Die Fülle der interessanten Eindrücke dieser Stadt, ihrer Orte und ihr Flair allein lassen jeden der Orte zu etwas Besonderem werden. Und Sightseeing fühlt sich plötzlich nicht mehr wie Sightseeing an.

Hitze und kleiner Hunger ziehen uns in ein Lokal auf dem Marktplatz. Lasagne und Club-Sandwich sollen's werden. Nicht unbedingt typisch korsisch, aber dazu haben wir sicher noch genügend Gelegenheiten.

Als wir dann die einzigen verbliebenen Gäste im Restaurant sind, ziehen wir weiter. Wir tapsen durch eine Gasse mit einem alternativ ausschauenden Restaurant. Eher eine Mischung aus Restaurant und Strandbar. Es ist mehr eine Art Hof, den Ort merken wir uns definitiv vor.

In der nächsten Gasse absolutes Kontrastprogramm: Betucht wirkende Familien beim Austernessen. Ich fotografiere in der Gegend umher. Teresa erzählt mir anschließend, dass die Herrschaften uns angeschaut hätten als wollten wir ihnen in ihre Fischsuppe spucken. Ich bekomme nichts davon mit.

Am "Malecon" von Bastia, so haben wir die Promenade getauft, wird uns wieder bewusst, wie heiß es in der Sonne eigentlich ist. Perfekt, um in Richtung Supermarkt zu ziehen uns sich mit Wasser, korsischer Limo, Trockenfrüchten, Nüssen und Äpfeln zu versorgen. An der Kasse spielen sich merkwürdige Szenen ab, leider fehlt's uns da am letzten Quäntchen Sprachkenntnis. Auf jeden Fall nimmt es die Kassiererin sichtlich mit. Wir sind scheinbar Zeugen des franko-mediterranen Temperaments geworden.

Am Place de la Justice wird die vermeintlich korsische Limo im Schatten verköstigt und der Kreisverkehr beobachtet. Memo an mich selbst: Sobald man am Kreisverkehr ist, wird geblinkt. Aber zum Kreisverkehr hinzeigend und egal wie lange. Wahrscheinlich möchte man damit anzeigen, wie lange man im Kreisverkehr bleiben möchte. Aber ist der Blinker einmal an, ist er an. Auffahren darf, wer am längsten draufhält. Das wird übermorgen lustig!

Auf Schleichwegen, die wahrscheinlich die wenigsten Touristen zu Gesicht bekommen, betreten wir wieder unser Hotel. Wir hoffen auf einen um eine halbe Stunde verfrühten Checkin. Und es klappt. Das Zimmer ist modern, sauber und hat eine symmetrische 100Mbit-Leitung. Mitten im Mittelmeer.

Abends

Als die Sonne etwas gnädiger ist, schauen wir uns den allernächsten Strand an. Eine Art Stadtstrand direkt neben dem Hafen. Die Lage schon lässt erahnen, dass nicht mit dem schönsten Strand Korsikas zu rechnen ist. Sagen wir, diese Erwartung wird deutlich unterboten. In Bastia sind Sandstrände ohnehin rares Gut. Dieser Strand ist einfach ein von Menschen besuchter Ort am Meer. Mit Gestrüpp, Steinen und durchaus auch mit Müll. Der Besuch war ohnehin eher zur Orientierung gemeint. Wir setzen unsere Promenade entlang der Promenade fort. Vorbei am Hafen und dem Place St. Nicolas. Der Weg führt uns über die Schnellstraße recht zügig an den Alten Hafen. Er liegt mittlerweile im sanften Licht der dicht über den Bergen stehenden Sonne. Die "Fiera", das kleine Stadtfest ist nun im vollen Gange. Viele Menschen vergnügen sich mit Speisen und Getränken zur lauten Musik. Wir sind noch unschlüssig, ob wir uns anschließen und schieben das auf.

Zunächst verschlägt es uns auf die Kaimauer zu einem der Leuchttürme. Man hat einen wundervollen Blick über das Treiben der Fiera, die Zitadelle, den Alten Hafen und die Berge.

Als die Sonne dann hinter den Bergen verschwindet, halten wir uns auf dem Fest nicht lange auf. Es sind uns einfach zu viele Menschen und mit Maske ist hier ohnehin nichts (mehr?). Wir hatten doch heute diesen alternativ ausschauenden Innenhof ausgespäht. Dort verbringen wir den Abend bei einer Käsepizza und zwei Drinks.

Zwischen Märchenwald und Macchia Korsika ist nicht französisch