Heute ist Mittwoch. Wir verlieren die Wochentage aus dem Blick. Und das ist gut so! Der Mittwoch wird ein ruhiger Tag. Wir haben nicht viel geplant. Eine Mischung aus Entspannung, einer klitzekleinen Wanderung und ein bisschen Kultur. Ein schöner Mix.
Feiner Sand
Der Wind weht stetig durch die Kronen der Pinienbäume, als wir frühstücken. Der eine Aprikosenbaum daneben trägt schon reife Früchte. Der andere braucht noch ein wenig. Es ist leicht bewölkt aber schön warm. Es zieht uns am heutigen Vormittag an den Strand. Währenddessen läuft in der Ferienwohnung die Waschmaschine. Die Wanderschuhe müssen vorerst den Flip Flops weichen, die Wanderhose der Badehose. Immer wieder lässt sich doch mal für einen kurzen Augenblick die Sonne blicken. Dann natürlich aber in ihrer vollen Wucht. Es ist gut so, dass es nicht durchgehend so ist. Wie üblich, passieren wir die Bahngleise, kurz darauf tauchen unsere Füße in den heißen, feinen Sand. Teresa geht eine Runde schwimmen, ich versuche auf dem Badetuch die Augen zu schließen. Gar nicht so einfach sich hinzulegen, weht der lose Sand doch immer wieder unangekündigt in Augen, Ohren, Nase. 20 Sekunden später sitze ich schon wieder. Ich bin paniert. Ich sehe aus wie zwei aneinanderklebende, übergroße Fischstäbchen. Wegen der Proportionen würde ein Fischstäbchen leider nicht reichen. Ein wenig bekomme ich Hunger. Der Sand glitzert stellenweise. Als wir kurz darauf mit den Füßen im Wasser stehen, wirbeln auch hier die kleinen Wellen kleine glitzernde Partikel auf. Gold wird's natürlich nicht sein, ich wüsste aber trotzdem gern, was es ist. Nebenan eine junge polnische Familie. Polen wirken im Urlaub häufig gestresst. So auch hier. Hier, wo es im Allgemeinen sehr ruhig zugeht, fällt das besonders auf.
Wir duschen eine knappe Stunde später bereits den Sand ab, holen die Wäsche aus der Maschine und bewegen uns in Richtung Innenstadt. Am Bahnhof von Calvi liegt die Touristeninformation. Über Plakate sind wir auf eine Aufführung aufmerksam geworden. Korsischer polyphoner Gesang in Lumio. Da wollten wir ohnehin hin. Wird eben beides kombiniert. Wir lassen uns zwei Tickets geben und schlendern noch ein wenig durch die Gassen. Der Hunger meldet sich wieder. Hier hat aber nichts um die Uhrzeit - es ist früher Nachmittag - auf. Außer der Fastfoodladen. Burger, Pommes, Galettes. Naja. Wirklich einfach nur "naja". Aber selbst schuld. Geld holen, zweite Wäsche aufhängen und dann geht's auch bald weiter.
Verlassenes Bergdorf
Lumio ist eine Nachbargemeinde Calvis. Knapp 10 Kilometer entfernt davon. Der Ortskern ist deutlich höher über dem Meeresspiegel. Und von hier aus führt ein alter Maultierpfad noch ein Stückchen höher in die Berge zu einem Örtchen mit dem wohlklingenden Namen "Occi". Gut, wir wissen nicht, wie er klingt, haben wir ihn noch nicht gehört. Und wegen der sprachlichen Besonderheiten hier wollen wir uns auch nicht festlegen. Aber jede Variante, die uns einfällt, würde blumig klingen.
Das Besondere an dem Örtchen ist, dass es schon seit langer Zeit verlassen ist. Félix Giudicelli war der letzte Einwohner des Dorfes und starb bereits im Jahre 1918. Seitdem sind nur noch hohle Gebäude und Mauerreste übrig. Eine halbe Stunde dauert der Aufstieg laut Reiseführer. Trotz vieler Foto- und Umschaustopps kommen wir in 27 Minuten oben an. Für das Gewissen lassen wir diesen kurzen Fußmarsch als Wanderung durchgehen. Das Dorf selbst zieht uns in der Abendstimmung in seinen Bann. Zentral gelegen ist die Dorfkirche, die bis heute auch gut erhalten und vor einiger Zeit renoviert wurde. Selbst eine Glocke hängt im Kirchturm. Vor ihr ein großer Baum, drumherum viele mehr oder weniger noch als Gebäude erkennbare Mauerreste, an denen Warnschilder angebracht sind. Einige davon beschmiert mit Grüßen.
Wir wurschteln uns ein kleines Stück durch das dichtbewachsene Gestrüpp, streben einen Blick über das Dorf vom höher gelegenen Dreschplatz an. Einen waghalsigen Sprung über zwei große Steine hinweg, erreichen wir ihn. Von hier aus sehen wir, dass wir das durchaus hätten einfacher haben können. Es führt ein Weg hoch. Der Dreschplatz ist kreisrund, etwas mit Unkraut durchwuchert und man hat einen fantastischen Blick auf die Küste, die Täler, Calvi, sogar L'Île Rousse und auch auf die historischen Überreste Occis.
Wir halten uns hier noch ein wenig auf, lassen uns durch die Gassen treiben, wenn man sie denn so nennen kann. Wir sind neugierig, ob man die Kirche betreten kann. Leider ist die Tür verschlossen. In der Fassade ist eine Aushöhlung. Maria mit Kind fügt sich in den Gelbtönen der Kirche nahtlos ins Bild ein.
Es ist halb acht. Langsam machen wir uns auf den Rückweg. Uns strahlt die tiefstehende Sonne an. Mal glitzert sie uns über die Meeresoberfläche an, mal durch die Wolken hindurch. Manchmal macht sie beides gleichzeitig. Der alte Maultierweg ist gepflegt, wie auch die historische Stätte an sich. Man hat sich bewusst dagegen entschieden, den Ort unmittelbarer erreichbar zu machen. Man fürchtet den Massentourismus. Für uns ist das auf jeden Fall eine willkommene, kurze, aufschlussreiche und beeindruckende Zeitreise gewesen. Zeitreise übrigens auch wieder am Ende des Weges. Dort sind einige noble Häuser und ein Hotel. Eines der noblen Häuser hat einen Pool, an dessen Beckenrand ein Ergometer steht. In der tiefstehenden Sonne sieht es alt und drahtig aus. Da haben wir es wieder, das Siebzigerfeeling von Calvis Promenade. Wir legen alles Unnötige in den kleinen Kofferraum unserer Knutschkugel, füllen wieder unseren Flüssigkeitshaushalt auf und unterhalten uns über das Erlebte. Um 20:15 planen wir die paar Hundert Meter zur Kirche hochzugehen. Um 21 Uhr beginnt dort das Konzert polyphoner korsischer Klänge.
Korsische Klänge
Die "Église Sainte-Marie" oder "Ghjesia Santa Maria", wie sie auf korsisch heißt, ist nur etwa 300 Meter, knapp hinter der Biegung, entfernt. Weder müssen wir umparken, noch einen Umweg auf uns nehmen. Immer wieder fahren Autos auf den Parkplatz oder die Straße weiter hoch. Wir sind unwahrscheinlich gespannt auf das, was uns erwartet. Ein wenig haben wir uns schon mit der korsischen Polyphonie auseinandergesetzt. Es ist ein mehrstimmiger Männergesang, meist im Quintett, aber auch in anderen Besetzungen. Instrumente oder nicht - ich glaube da gibt es keine großartigen Regeln. Es wird auch gerne spontan musiziert zu bestimmten Themen bei Festlichkeiten. Heute würde man das "Freestyle" nennen. Von der Klangfarbe erinnert uns das an den Männergesang in Georgien. Auf jeden Fall wollten wir uns ja die Gelegenheit nicht entgehen lassen, an einem Konzert teilzunehmen. Die Kirche hat eine pastellrosa Fassade und steht exponiert im Berg mit einem weit schweifenden Blick auf den Golf von Calvi. Kleine Siedlungen schlengeln sich den Berg weiter herum. Deren Häuser glänzen um die Uhrzeit goldfarben und in warmen Tönen. Es stehen schon einige Menschen vor der Kirche. Es sind vorwiegend ältere Menschen, die des Französischen mächtig sind. Einige wenige jüngere, ich zähle uns da jetzt einfach mal dazu, fallen hier auf. Dresscode gibt's nicht. In unserer Wandermontur fallen wir wahrscheinlich nur kurz auf. Es werden noch Karten verkauft. Eine junge Frau blockiert mit ihrem Tisch noch den Eingang. Zeit genug sich ein wenig umzublicken.
Dann geht es ganz schnell. Bunte Zettel haben die Leute, die die Karten direkt irgendwo gekauft haben. Weiße Kassenbons bringen diejenigen mit (so wie wir), die sie sich über Touristeninfos oder ähnliches beschafft haben. Das Innere der Kirche wirkt freundlich. Die Mauern sind hellgelb marmoriert, die tragenden Elemente in weiß abgesetzt. Wie auch schon bei der Außenfassade. Wir sitzen recht weit hinten. Links von uns befindet sich die Kanzel. Rechts von uns zwei Figuren, fast lebensgroß: Ein - wahrscheinlich - römischer Soldat mit Schwert und Maria. Der Raum strahlt irgendwie eine einfache Ehrlichkeit aus. Durch die oberen Fenster streut sich das Abendlicht im Raum. Alle Sitzplätze sind belegt. Ich schätze knapp über 100. Kurz vor Beginn des Konzerts setzen wir dann doch unsere Maske auf. Darüber hinaus noch knapp vier andere. Hier fühlt es sich nicht an, als wären wir noch in der Epidemie. Überall Hinweisschilder auf obligatorisches Masketragen, aber tatsächlich setzt sie niemand auf. Wir versuchen es immer der Situation anzupassen und darauf zu pfeifen, was die anderen machen. Als die ersten Töne erklingen, stellt sich wortwörtlich Gänsehaut ein. Fünf Männer betreten nacheinander die Bühne. Der Raum taucht in ein kühles Blau. In der Reihenfolge ihres Auftritts beginnen sie ihre Instrumente zu spielen. Schlagzeug, zwei Gitarren, Violine, Flöte. Der Gesang ist unheimlich kraftvoll und stolz, auch wenn es die Erscheinung der einzelnen nicht unbedingt erahnen lässt, fluten sie die Kirche mit wahnsinnig viel Energie. Ich bin schon von Anfang an mehr als positiv überrascht.
Einer der Gitarrenspieler moderiert mehr oder weniger durch den Abend und erzählt Einiges zu den Eigenheiten des Gesangs, zu Hintergründen und wovon die Lieder in korsischer Sprache handeln. Leider verstehen wir nicht viel. Nötige Schlüsselwörter geben den Kontext. Ich entnehme, dass sich der Gesang intensiv mit der korsischen Geschichte auseinandersetzt, viele der Lieder einzelne historische Etappen beschreiben. Eines der traurigsten Kapitel nach erstem und zweitem Weltkrieg war wohl 1970, da wollte ich mich aber noch informieren. Am Ende schafft es der charismatische Franzose, die älteren Herrschaften zu euphorischem 1-und-3-Klatschen zu bewegen. Eigentlich wird schon fast geschunkelt. Dieses Erlebnis wird uns mit aller Sicherheit eine sehr lange Zeit lebhaft in Erinnerung bleiben. Lebhaft diskutieren wir schon auf der Rückfahrt entlang der nächtlichen Nordküste. Wir sind begeistert.