Entweder hat uns die Insel ganz schön verzaubert und wir latschen ohne Zeitgefühl und mit verzerrter Warnehmung durch die Landschaft. Oder aber es ist hier "ganz objektiv" betrachtet einfach nur schön. Die Insel packt uns und lässt manch eine Wandermüdigkeit schnell verfliegen.
Wir pflegen neuerdings gerne Wanderungen in unsere Urlaube ein. "Neuerdings", das heißt seit unserer letzten "großen" Reise 2019 nach Georgien. Zwar haben wir uns immer schon gerne eher zu Fuß durch die Orte bewegt, anstatt etwa Bus oder Metro zu nehmen, aber das Wandern hat uns dann doch irgendwie gepackt. Heute steht unsere anspruchsvollste Wanderung der Reise an. Es sind "nur" 700 Höhenmeter zu bewältigen, aber nach zwei Jahren Corona in einem absolut flachen Bundesland sind wir bin ich nicht in bester Form. Das habe ich schon in Bastia und Revellata gemerkt. Teresa hingegen läuft und kraxelt mir davon.
Unsere Wanderung heute soll uns zum Ninosee führen. Beziehungsweise zum "Lac de Nino" oder "Lavu di Ninu", wie er in den beiden Landessprachen heißt. Er befindet sich auf etwa halber Strecke zwischen Porto und Corte im Landesinneren. Dass wir uns entschieden haben, von Porto aus ins Inland zu fahren, hat zweierlei Gründe: 1) Ein Tag länger am Meer und 2) die anspruchsvollste Wanderung nicht zum Schluss. Letzteres eine Erfahrung, die wir seit Georgien zu respektieren wissen.
Für die vierzig gewundenen Auf- und Abkilometer brauchen wir über eine Stunde. Immer mit einem Korsen hinter uns, der es etwas eiliger hat als wir.
Kurz nachdem wir uns die Wanderschuhe geschnürt haben, erwartet uns das gelbe Schild: "Lavu di Nino, Rundweg, 3h30". In meiner Welt heißt das, dass wir für den Rundweg dreieinhalb Stunden planen können. So schwer wird's dann wohl nicht sein: Zwei hinauf, anderthalb hinab. Zehn seichte Gehminuten später dann das Schild "3h05". Läuft wie am Schnürchen.
Wir folgen immer weiter den gelben Markierungen, nach denen wir manchmal suchen müssen. Wo uns keine Markierung den Weg weist, sind kleine Türmchen aus Steinen am Wegesrand unsere Wegweiser. Ein-, zweimal kommen wir einige Meter vom Weg ab, man findet aber immer leicht zurück.
Unterwegs suchen wir wieder nach dem gelben Farbklecks. Wir stehen in einer Lichtung, ein mit Steinen dekorierter toter Baumstumpf schreit uns förmlich an: "Hier entlang!". Deutlicher kann der Hinweis nicht sein. Weiter geht's. Diese Wanderung ist familientauglich. So empfinden wir es noch, das zeigen aber auch deutlich die vielen Familien mit Kindern im Grundschulalter. Einige Kinder quengeln, aber ich quengel auch immer mehr, während ich mürrisch wie ein Esel Teresa durch die Walachei folge. Die Waldabschnitte sind noch absolut erträglich. Meine Begeisterung für die Tour sinkt aber Schritt für Schritt, während sich der Wald langsam lichtet und die Landschaft Höhenmeter für Höhenmeter immer karger und steiler wird. Der Blick auf die Uhr verrät, dass das mit den 3h30 für Hin- und Rückweg "ein wenig eng" wird. Teresa hat nur ein müdes Lächeln parat, sie hat's schon gewusst, ich hab wieder nicht hören wollen. Ich denke mir "Leute, Rundweg 3h30! Drückt euch bitte präziser aus". Dann hätte ich wahrscheinlich aber schon kapituliert. Das Bächlein Colga rauscht linkerhand so wie ein Bergbächlein nun mal rauschen kann. Rechterhand der Blick auf die Bergerie de Colga, eine kleine Steinbarracke.
Es ist warm. Und anstrengend. Zumindest für mich. Huch, das habe ich schon erwähnt. Aber der Blick zurück ins Tal motiviert ungemein. Aus dem mürrischen Esel wird ein sein Schicksal akzeptierendes schnaufendes Etwas. Die Pausen werden häufiger. Immer wieder fixiere ich den nächsten Haltepunkt. Kurzfristiges Ziel um Ziel geht's halbwegs. Immer mit einem Schluck Wasser und dem besänftigenden Blick auf die vielen bunten Vegetatationspunkte. Das Bächlein ist mittlerweile verstummt. Zu hören ist hier rein gar nichts. Nur das eigene Schnaufen und ab und zu eine Eidechse, die durch die spärliche Vegetation huscht um sich vor uns zu verstecken. Ach, und der eine oder andere selbstbemitleidende Schluchzer. Teresa erträgt das tapfer.
Die Höhenkarte zeigt, dass es nur noch wenige Meter sind, bis es in mehr oder weniger flaches Terrain übergeht. Die wenigen Meter haben es nochmal in sich. Wir gehen in den Klettermodus über. Dann eröffnet sich vor uns der Blick auf einen flachen, mit Geröll übersähten Bergsattel. Zwischendrin immer wieder die gelben Pflanzensprenkel, die wir schon unterwegs gesehen haben. Die Knie sind ein wenig weich gelaufen, aber es macht sich Erleichterung breit. Geschafft!
Jetzt, während wir über den Sattel gehen und die gestrigen Eindrücke immer noch nicht ganz verarbeitet sind, mischt sich unter die Erleichterung wieder einmal das Gefühl der absoluten Überwältigung. Wir strahlen, während wir auf die sattgrüne Hochebene blicken. Im Hintergrund der Lac de Nino, im Vordergrund unwirklich erscheinende Wasserlöcher, die die grüne Ebene durchsetzen. Mittendrin grasen wild lebende Pferde. Es ist eine Szene, die man sich epischer nicht hätte ausdenken können. Wolken ziehen stimmungsvoll ihre Schatten über die Landschaft. Die ganze Mumpelei auf dem Hinweg wirkt plötzlich albern und fehl am Platz. Mir fehlen die Worte.
Den Menschen um uns herum sieht man an, dass sie genauso ergriffen sind wie wir. Wir gehen das kurze Stück bergab. Hier führt der GR20 durch, einer der anspruchsvollsten Fernwanderwege Europas. Es sind Menschen mit Wanderstöcken und großen Rucksäcken unterwegs. Strammen Schrittes marschieren sie den schmalen Kiesweg entlang. Das Gras ringsum wirkt unwahrscheinlich gepflegt, fast wie Kunstrasen. Es zwingt einen förmlich mit der Hand darüberzufahren. Es ist borstig, aber definitiv echt!
Wir teilen uns eine korsische Pomelo und einen Apfel, während wir es uns auf den Badetüchern am See bequem machen. Es ist deutlich kälter als außerhalb des Talkessels. Die Szene wirkt wie eingefroren, die Wolken scheinen sich nicht zu bewegen. Im Rücken hören wir vereinzelt die Stimmen der sich unterhaltenden Fernwanderer. Mir fallen die Augen zu.
Wir haben eine Kuh übersehen! Die weidet da ganz gemütlich und lässt es sich auch einfach nur gut gehen, während wir ganz langsam wieder den Rückweg antreten. Die Pferde scheinen sehr zutraulich zu sein und Menschen gewöhnt. Von zwei Mädels lassen sie sich sogar streicheln. Mit jedem Schritt aus dem Talkessel heraus wird's wärmer. Hier bewegen sich die Wolken wieder. Die pralle Nachmittagssonne hat uns wieder. Meine Finger sind etwas steif geworden. Das erste steile Stück bergab wird dadurch ein wenig wacklig. Teresa hingegen hat alles gut im Griff. Der Rückweg scheint sich unglaublich hinzuziehen. Die vielen Steine sind wir hochgekraxelt? Die Bergerie ist noch lange nicht in Sicht. Vom Wald gar nicht zu träumen. Immerhin sind es nur ganz wenige Stopps, die wir machen. Manchmal ist naiv drauf losgehen doch besser, als den Weg zu kennen. Knapp sechs Stunden seit Beginn der Wanderung sind wir wieder an der Knutschkugel. "Rundweg, 3h30!", ich höre mich wieder mumpeln, als ich das Schild sehe. Wir kommen ins Gespräch mit einer Familie. Ihr Camper ist uns schon bei unserer Ankunft aufgefallen, sie haben hier übernachtet, erzählen sie uns. Nun machen sie sich bereit für die Weiterfahrt nach Porto. Sie sind aus Baden-Württemberg und über die Pfingsferien hier. Gepackt vom Korsika-Fieber und mit Verwandtschaft auf Korsika ist das nicht ihr erstes Mal.
Spätnachmittags fahren wir wieder die gewundene Straße nach Porto zurück. Mit kurzem Zwischenstopp am Supermarkt nähern wir uns dem Hotel und ruhen uns aus. Abends kehren wir im "Gina" ein und genießen den Sonnenuntergang bei hervorragendem Burger und Schawarmabrot und ein, zwei Capo Spritz. Schließlich gehören wir nach 22 Uhr zu den letzten Gästen. Uns wird bewusst, dass auch wir, genau wie die Familie vom Parkplatz, der Insel nach und nach verfallen. Die Insel hat etwas Anziehendes und hält einen gleich fest. Wir haben Traummaterial für die nächsten Jahre.