Unter den zehn Dingen, die man auf Korsika gemacht haben muss, befindet sich mit großer Sicherheit auf jeder Liste ein Sonnenuntergang bei den Calanches de Piana. Dahin fahren wir jetzt. Schon ein wenig gerädert von der vorausgehenden Wanderung, aber mehr als gespannt.
Ich bin immer noch skeptisch, ob wir es rechtzeitig zu unserem anvisierten Ziel schaffen: Die Calanches vor Sonnenuntergang von einem exponierten Punkt aus zu sehen. Ich habe abgespeichert, dass wir noch eine einstündige Wanderung vor uns haben, es ist nach 19 Uhr und wir sind gerade erst losgefahren. Zwanzig Minuten brauchen wir noch sicherlich dahin. Teresa hört sich geduldig meine Version der Geschichte an und korrigiert kurz darauf. Es ist nur eine sehr kurze Wanderung: Halbe Stunde hin, zwanzig Minuten zurück. Wenn überhaupt. Wir liegen ziemlich gut im Zeitplan. Ich wage es gar nicht erst zu mumpeln. Das Bisschen schaffen wir auch noch. Der Tête de Chien ist ein Stein, der mit ein bisschen Fantasie wie ein Hundskopf geformt ist. Er ist uns schon auf dem Hinweg aufgefallen. Direkt darunter ist ein unbefestigter Parkplatz für vielleicht sechs Autos. Wir sind erstaunt darüber, dass an den Calanches um die Uhrzeit absolut nichts los ist. Tagsüber war hier Halligalli, die Leute standen auf der Straße und haben fotografiert. Nun, zur besten Zeit, ist es fast wie ausgestorben. Auch die Reiseführer haben schon gemahnt, dass man deutlich früher vor Ort sein sollte. Das bezog sich wahrscheinlich auf die Hauptsaison. Wir kommen am Hundskopfparkplatz an. Ein weiteres Auto steht hier, sonst nichts. Ein wenig komisch finden wir das schon, staksen aber leichten Schrittes mit aufgesatteltem Stativ in das dunkle Waldstück vor uns. Übliches Auf und Ab, nicht zu vergleichen mit Capu Rossu, also alles im grünen Bereich. Hier und da lichtet sich der Wald und wir laufen am Rand der Klippen entlang. So viele Windungen wie der Weg hat, ist schnell die Orientierung zu verlieren, verlaufen kann man sich allerdings nicht. Auf den letzten Metern dann strahlt uns dann die Sonne durch den sich lichtenden Wald ins Gesicht. Wir haben etwa zwanzig Minuten für den Hinweg gebraucht und blicken auf den großzügigen Felsvorsprung, auf dem wir heute Abend zu Gast sein werden.
Es befinden sich drei weitere Personen auf dem Felsvorsprung. Zwei ältere Herrschaften und eine junge Frau, vielleicht Teenagerin. Wir vermuten, es handelt sich um Eltern und Tochter, wahrscheinlich aus dem ländlichen Süddeutschland. Zumindest ihrem Dialekt nach zu urteilen. Der Vater starrt angestrengt auf's Meer. Im Hintergrund hört man schon seit Stunden immer mal wieder das düstere Gebrumme eines Hubschraubers. Hier ist es besonders brummelig und nah. Wir haben auch vom Capu Rossu aus in der Ferne ein größeres Schiff die Küste auf- und abfahren sehen. Wir dachten zunächst an ein Marineschiff, könnte aber durchaus auch die Küstenwache sein. Ich frage ob sie wüssten, was dort vor sich gehe. Scheinbar handelt es sich um eine Suchaktion, oder um eine Übung. Der Hubschrauber schwebt in Wassernähe eine längere Zeit an Ort und Stelle. So, dass man seinen Abwind im Wasser deutlich erkennt. Immer wieder fliegt er eine größere Runde und kehrt an eine andere Stelle zurück. Das Schiff fährt im Hintergrund seine Bahnen, immer im selben Abstand von der Küste mal nach links, mal nach rechts. Wir hoffen, dass es sich nur um eine Übung handelt. Die Sonne steht noch zwei Finger breit über dem Horizont.
Wir machen uns mit der Umgebung bekannt, während langsam aber stetig die Sonne vor uns in den Horizont fällt und der Mond hinter uns aufsteigt. Die Landschaft ist in einen rotgoldenen Schimmer gehüllt. Das Meer und das Treiben darauf ziehen immer wieder unsere Blicke an. Je tiefer die Sonne fällt, desto ruhiger wird es um uns herum. Auch wir werden immer ruhiger. Nach ein paar Fotos machen sich die Schweizer auf den Rückweg, dabei ist die Sonne noch nicht untergegangen. Wir sind nun ganz alleine und beobachten das Treiben auf und über dem Wasser. Der Hubschrauber setzt immer wieder dazu an, einige Minuten über der Wasseroberfläche zu schweben. Währenddessen laufen wir alle Ecken des Felsvorsprungs ab. Ich merke, dass meine Bewegungen vorsichtig werden, je näher ich an die Kante herantrete. Ich habe einen guten Stand, aber der Magen flattert als ich nachjustiere. Direkt unter mir ist das Meer und es rauscht einfach vor sich hin. Die Farben werden immer wärmer, das Grün der Pflanzen wird im Kontrast dazu immer stärker. Wir wanken zwischen interessiertem Erkunden und kurzer Fotopause. Alles ist wie im Zeitraffer, die Sonne fällt und fällt. Die Insel der Schönheit hat sich den Namen mehr als verdient. Die rotgoldenen Felsen ragen stolz aus der grünen Vegetation hervor, die Küste schroff, das Meer ganz ruhig.
Als die Sonne im Meer versinkt, tuckert das Schiff immer noch von links nach rechts und von rechts nach links, der Hubschrauber brummt knapp überm Meer, das Meer rauscht an der Brandung. Eine eigenartige Kombination, als der Hörsinn übernimmt und der Sehsinn sagt: "So, mein Job ist für heute getan!". Vermeintlich unspektakulär aber absolut bombastisch sind gerade die Eindrücke. Und ich weiß noch nicht, dass ich das erst werde später merken. Die Landschaft hinter uns zeigt sich in ihrer vollen Pracht. Rote Felsen im Sonnenuntergang sind toll. Die blaue Stunde kurz nach Sonnenuntergang ist noch toller. Die Felsen scheinen ganz von allein zu strahlen, die Sonne ist schon seit einigen Minuten untergegangen. Die Farbe des Himmels wechselt ins Bläulich-Violette, der Kontrast zwischen Fels und Flora ist reichhaltig. Das ist der erste Moment auf unserer Reise, zu dem ich nicht an meinen fotografischen Fertigkeiten zweifle sondern daran, dass die Technik überhaupt in der Lage ist, das Gesehene aufzunehmen. Einige Abende müsste man sich hier beschäftigen, um dem Feuerwerk auch nur im geringsten gerecht zu werden.
Das Blau der Nacht legt sich langsam über die Landschaft, während wir mehr oder weniger sprachlos den Weg durch den Wald wieder zurückgehen. Aufs und Abs, so wie auf dem Hinweg auch. Diesmal deutlich dunkler und weniger zielstrebig. Wir sind geplättet von den Eindrücken, als wir auf die Knutschkugel zugehen. Sie steht als Einzige dort. Die Wanderschuhe kommen wieder in den Kofferraum, das Verdeck öffnen wir der Stimmung wegen. Wir unterhalten uns wieder einmal auf dem Rückweg über das Gesehene, während wir in unserem eigenen schmalen Lichtkegel durch die engen Kurven der Küstenstraßen ziehen. Diesmal etwas unvorsichtiger, Gegenverkehr sieht man von Weitem.