Wir bereiten uns auf einen entspannten Tag vor. Entspannt heißt in dem Fall, mit der Knutschkugel unterm Hintern und dem Fahrtwind um die Ohren ein Stückchen weiter zu fahren. Am Abend möchten wir im Herzen der Insel sein, in Corte. Bis dahin können wir uns einfach treiben lassen.
Was das Packen angeht, werden wir immer routinierter. Und natürlich ein wenig nachlässiger. Das ganze Elektronikzeugs wird einfach irgendwo reingestopft. Die Wanderschuhe werfen wir in den Fußraum der Rückbank. Kurz nachdem wir die Hotelrechnung begleichen, sind wir bereits an die bequemen Sitze geschnallt. Aber nicht lange. Wir machen es ganz genau so wie gestern: 2 Pâtes, 2 süße Gebäckstücke, 2 kleine Kaffee vorm Spar am Campingplatz. Die Knutschkugel muss sich noch ein bisschen gedulden. Es fällt uns nicht leicht, Porto zu verlassen. Es ist eine schöne Basis für die nördliche Hälfte der Westküste. Und die Liste der Orte, die wir uns gerne anschauen würden, ist noch sehr lang. Mehr noch: Sie wird von Tag zu Tag länger. Welche Facetten Korsika noch zu bieten hat? Wir bleiben gespannt!
Mit Premiumfrühstück im Bauch schlängeln wir uns die Straße hoch in Richtung Piana. Die Reisebusse, wie auch immer sie es schaffen, sich hier hochzuschlängeln, laden ihre Gäste an den Calanches ab. Es ist wuselig auf der Straße. Es scheint ein kurzer Stopp zu sein. Bemüht darum, die abgelenkten Touristen im Blick zu behalten, passieren wir im Schritttempo die Wuselstelle und schlängeln uns weiter. Kurz dahinter begrüßt uns wieder das liebliche Stadtbild Pianas. Wir fahren zweimal durch den Ort und finden keinen Parkplatz. Auf einem kleinen unbefestigten Parkplatz außerhalb der Stadt blicken wir über die Westküste und den Golf von Porto in Richtung Norden. Kurz innegehalten wäre es doch schön, mal etwas komplett Ungeplantes zu machen. Einen Ort zu besuchen, den wir nun gar nicht auf dem Schirm hatten. Piana, wir werden sicherlich in Zukunft das Vergnügen miteinander haben. Bis dahin müssen wir uns ein wenig gedulden.
Corte, das Tagesziel, liegt von hier aus knapp 100 Kilometer kurvigen Auf- und Abs im Nordosten. Uns zieht es einige Schlenker weiter in die entgegengesetzte Richtung: nach Süden. Der Finger landet bei Google Maps auf dem Örtchen Cargèse. Davon haben wir noch keinerlei Vorstellung. Wir verlassen die küstennahe Straße ein kleines Stück in Richtung Inland und nehmen Fahrt auf. Der digitale Tacho der Knutschkugel nähert sich der 80 trotz der kurvigen aber breiten Straße entlang eines langgezogenen Tals. Die Straßenschilder warnen mal vor Kühen, mal vor Schafen. Am Straßenrand befindet sich nebst der einen oder anderen Wohnsiedlung auch Verlassenes: kahl wirkende, blanke Steinbauten. Es handelte sich dabei sicherlich mal um Kleinindustrie oder Handwerk. Ehrlich gesagt kratzen wir an der 80 auch nur, weil ein Drängler ein wenig drängelt. Normalerweise lassen wir das entspannt über uns ergehen, hier hat es sich aber einmal angeboten, das Tempolimit auszureizen. Als die Kurven immer enger werden, wird es mir zu bunt und ich fahre gemächlich rechts ran. Es geht nun wieder ein wenig gemütlicher zu.
Kurz darauf rollen wir bereits durch die kleine Stadt. Sie scheint eine Hauptstraße zu haben, von der eine weitere Straße in Richtung Norden abgeht. Die Straßen treffen eher im Dreieck auf einer ungewöhnlich unübersichtlichen Kreuzung aufeinander. Uns fehlt noch das Gefühl für die Stadt und ihre Größe. Wir fahren ein kleines Stück weiter und halten in einer Parkbucht mit Panoramablick übers Meer. Rechterhand unter uns befindet sich die Cargèsesche Marina und eine Art alter Stadtkern. Der Blick auf die Karte zeigt, dass Cargèse nicht sonderlich größer ist, als das, was wir hier überblicken können. Oberhalb der Straße noch einige Häuser. Es lockt uns die Aussicht auf einen kleinen Stadtbummel mit anschließendem Eis oder Eiskaffee. Vorher werfen wir einen Blick auf eine Karte, die wir vor der Reise fanden und zwischenzeitlich wieder vergaßen, die Route des Senses Authentiques. Als kleine Inspirationsquelle, was sich an Kunsthandwerks- oder Landwirtschaftsbetrieben entlang unserer Route befinden könnte.
Cafés und Souvenirläden säumen den Rand der Straße, in der wir parken. Sie sind gut besucht. Auch die Straße ist gut befahren. Trotzdem scheint die Stadt unaufgeregt zu sein, eher untouristisch. Ein widersprüchlicher Eindruck. Die Architektur ist typisch mediterran und je weiter wir uns von der Hauptstraße entfernen, desto verschlafener wirken die Gassen. Klar sind Menschen unterwegs, hier und da ist Bewegung in den Straßen, aber alles spielt sich fast lautlos ab. Das mag sicherlich auch an der Mittagshitze liegen. Irgendwie strahlt die Stadt etwas eigentümlich Gelassenes aus.
Wir bewegen uns bergab in Richtung der beiden Kirchen, die man schon bei der Einfahrt in die Stadt gesehen hat. Sie liegen sich gegenüber und sind durch ein kleines Tal voneinander getrennt. In diesem Tal eine gartenartige Anlage. Die Tomatenpflanzen wachsen geordnet der Sonne entgegen. Es wird immer grüner und frischer, je weiter wir uns der, von uns aus rechten, Kirche nähern. Mit einer langen und turbulenten Vorgeschichte im Gepäck wurde die Stadt so, wie man sie heute kennt, von griechischen Flüchtlingen Ende des 18. Jahrhunderts gegründet. Die Église Saint-Spyridon, vor der wir uns jetzt befinden, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als griechisch-katholische Kirche kurz nach der "linken" römisch-katholischen Kirche erbaut. Heutzutage finden Gottesdienste abwechselnd statt. Vor der Kirche sitzen einige Menschen auf den Bänken und Mauern im Schatten der Bäume. Wir schauen uns auch innen um. Es ist angenehm kühl. Gold und Blau dominieren und ganz im Gegensatz zu den meisten römisch-katholischen Kirchen gibt keine Orgel. Ikonen zieren die Wände.
Wir merken schon, dass es sich hier zu einem willkommenen kleinen historischen Exkurs entwickelt. Vor der Kirche besprechen wir uns kurz, ziehen weiter die ruhige Straße bergauf in Richtung Auto. Natürlich nicht ohne Verpflegungspause. Die Crèperie Lortu hat einen wundervollen Außenbereich mitten im Grünen und liegt etwa auf Höhe der römisch-katholischen Kirche. Teresa bleibt bei ihrem ursprünglichen Plan und entscheidet sich für einen reichhaltigen Becher mit Schoko- und Kastanieneis und Sahne. Ich entscheide mich für eine herzhafte Galette mit Käse und Schinken. Beides absolut empfehlenswert.
Auf den Spuren der korsischen Identität?
Die Geschichte Korsikas, das merkten wir schon früh bei der Vorbereitung der Reise, war innerhalb der letzten Jahrhunderte und sogar Jahrtausende sehr turbulent. Eigentlich waren hier alle Kulturen, die auch nur im Entferntesten etwas mit Seefahrt zu tun hatten: Griechen, Etrusker, Römer, Karthago, Franzosen, Genuesen und so weiter. Besonders prägend schien das 18. Jahrhundert gewesen zu sein, in dem Korsika gleich zweimal unabhängig wurde: Einmal unter einem "deutschen" König und ein weiteres Mal unter dem hier allgegenwärtigen Pasquale Paoli, dem "Vater des Vaterlandes" oder "Babbu di a Patria". Ihm zu Ehren sind hier zahlreiche Straßen, Plätze und Schulen benannt. Auf seine Initiative hin ging auch die Umgestaltung der korsischen Flagge zurück. Die Geburtsstunde der Flagge, die seit 1980 in leicht abgeänderter Form auf jedem Autokennzeichen und in vielen Fenstern hängt. Es ist der schwarze Kopf auf weißem Grund mit einer Augenbinde, die auf der Stirn liegt. Symbolisch ist es der Ausdruck für die Unabhängigkeit Korsikas und den anschließenden Freiheitskampf gegen die Franzosen und gegen jegliche Form der Besatzung.
Heute gehört Korsika immer noch zu Frankreich. Doch das Spannungsverhältnis ist deutlich sichtbar geblieben. Sowohl französische als auch korsische Identität werden hier nebeneinander gepflegt, etwa durch die weitestgehend zweisprachigen Straßenschilder. Regional scheint es aber durchaus üblich, seinen Unmut über das Französische kundzutun. Etwa, indem die französischen Ortsnamen auf eben jenen Straßenschildern mit Kugeln bis zur Unleserlichkeit durchsiebt werden. Das pazifistischere Pendant dazu besteht darin, die Ortsnamen ganz einfach zu übermalen. Auf unserer bisherigen Reise haben wir durchsiebte Straßenschilder in sehr seltenen Fällen gesehen, übermalte schon häufiger. Aber das Spannungsverhältnis suppt immer wieder durch kleine Details - wie eben das Statement "Korsika ist nicht französisch" im Alten Hafen Bastias - ins Bewusstsein. Und auch, wenn die vorhin erwähnte Flagge generell allgegenwärtig ist, hier in Cargèse ist sie "allgegenwärtiger". Es entsteht der Eindruck, als würde sich hier auf eine komische Weise jeder einzelne korsische Gegensatz versammeln. Ohne, dass man es wirklich beschreiben kann.
Während wir gemütlich an einem der wahrscheinlich schönsten Orte in Cargèse bei Galette und Eis sitzen und uns über die Auffälligkeiten der Stadt unterhalten, versucht Teresa etwas über die Graffiti herauszufinden, die an praktisch jeder Hauswand aufgesprüht sind. Auch dieses Detail ist uns bereits in Bastia aufgefallen, wenn auch nicht mit der Häufung, wie wir es in Cargèse erleben. Das Graffiti zeigt einen bärtigen jungen Mann, der seine Hand zur Faust ballt und sie kämpferisch in die Höhe streckt. Sein Gesichtsausdruck ist dagegen eher zuversichtlich als kämpferisch. Im Hintergrund befinden sich stilisierte Berge, im Vordergrund der einprägsame Name Massimu.
"Massimu", das ist der Spitzname des im September 2019 ermordeten Maxime Susini. Der damals dreißigjährige Cartèser war prominentes Mitglied einer der vielen nationalistischen Bewegungen und verschrieb sich dem Kampf gegen Ungerechtigkeit und das Treiben der korsischen Mafia. Ja, Korsika hatte und hat ein Problem mit der Mafia. Es ist schwierig, die Strömungen mit den vielen Abkürzungen und anhand größtenteils französischer Quellen auseinanderzuhalten. Die regionalpolitischen Zusammenhänge und ihre Historie sind kompliziert. Fest steht, dass sich der Kampf um die Unabhängigkeit Korsikas in jüngster Zeitgeschichte immer mehr zu einem blutigen Kampf unter Mafiaclans entwickelt hatte. So sehr, dass Korsika zeitweilig die höchste Mordrate in Europa aufwies.
Auch, wenn wir grob über die turbulente Geschichte Korsikas bei Anreise im Bilde waren: Dass es noch heute in einer derart "kleinen" Gesellschaft, einem derart prominenten Reiseziel, so heiß her geht, das überrascht uns. Demütig nehmen wir das Graffiti in Zukunft zur Kenntnis. Für die meisten Cargèser und Korsen scheint Massimu ein Nationalheld zu sein, der im Kampf um ihre Heimat für die Gerechtigkeit sein Leben lassen musste. Ein Symbol für die Freiheit und gegen die Unterdrückung. In einem simplen Reiseskizzenblogeintrag kann man der Situation mit der geforderten Tiefe nicht gerecht werden. Nachdenklich sitzen wir einige Zeit später wieder in unserem kleinen Reisemobil. Diesmal mit dem Gefühl, dass Korsika doch ein wenig verletzlicher ist, als es die schroffen Felsen und die stabilen, alten Gemäuer vermuten lassen. Wir dachten am Anfang des kurzen Fußmarsches durch Cargèse noch, dass wir langsam Korsika ein bisschen besser verstehen würden. Jetzt wissen wir nur, dass wir nichts wissen.
Was für ein Luxus es bloß ist, frei und unbeschwert reisen zu dürfen und zu können. Was für ein Luxus es bloß ist, nicht bedroht, verfolgt oder ausgebeutet zu werden. Was für ein Luxus es bloß ist, sich in einen kleinen, fahrbaren Safespace zurückziehen zu können und alles Gesehene und Erfahrene in Ruhe auf sich wirken zu lassen.