Reiseskizzen Korsika 2022

Corte

Im Herzen Korsikas

Schon die ersten Eindrücke Cortes verraten uns, dass unser Aufenthalt hier anders sein wird. Anders, als alles, was wir bisher von Korsika gesehen haben. Nicht komplett, sondern eher das Gesamtpaket. Es fehlt das Meer, der Hafen, der Sonnenuntergang. Es bleiben die Berge und es bleibt das Mediterrane. Neu sind die Schwalben, die hohen, massiven Gebäude und die flachen Stufen, das mittelalterliche Feeling. Zu wissen, dass man sich auf der Insel kaum weiter weg vom Meer befinden kann und doch mitten im Mittelmeer liegt, ist ungewohnt.

Wir steigen die 120 flachen Stufen wieder hinab durch den beige-blätternden Quader. Die Sonne ist bereits ein Stückchen weitergezogen. Es fallen immer wieder neue Details in diesem Treppenhaus auf. Die Tür auf der Zwischenetage zum Beispiel, die zu einer Abstellkammer führt. Sicherlich befand sich hier mal eine Gemeinschaftstoilette. Übrigens eine Parallele zur Toilette in unserer Gastwohnung: Sie wirkt auch eher wie eine Art Abstellraum mit unverputzten Wänden und einem eigenartig-modrigen Geruch. Eine Popart-Werbung für berühmtes Eau de Toilette steht gerahmt auf dem Spülkasten. Der PVC-Boden ist nur provisorisch gelegt. In unserer neuen Unterkunft läuft bereits die Waschmaschine. Wir haben uns frisch gemacht und sind startklar für eine erste kleine Entdeckungstour in unserer neuen Umgebung. Das Gebäude liegt im Cours Paoli. Es ist die zentrale Straße durch die Altstadt Cortes, die einige Meter weiter in die Place Paoli mündet. Dort decken wir uns mit einigen Flaschen Wasser und Limo ein. Der Gelbton der Sonne ist mittlerweile angenehmer und nicht mehr so schrill, die engen Gassen spenden wohltuenden Schatten. Ziellos bahnen wir uns den Weg durch die Gassen, um ein Gefühl für die Umgebund und die Entfernungen zu bekommen. Horizontal, wie auch vertikal. Die Gebäude wirken alt und hoch, als wir die Rue du Professeur Santiaggi entlangschlendern. Anders, als sie es an den bisherigen Orten auf unserer Reise waren. Ein junger Mann spricht uns an, augenscheinlich Student. Breites Grinsen, freundliches Auftreten: Er erkennt uns natürlich als Touristen und fragt spielerisch, ob wir nicht ein Foto von ihm machen wollen. Klar! Er grinst breit in die Kamera und posiert dabei selbstbewusst mit verschränkten Armen und Collegeblog vor der Brust. Die Situation ist so spontan und fühlt sich so natürlich an, dass wir uns wie selbstverständlich voneinander verabschieden, als wäre nichts gewesen. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich ihn nicht in ein Gespräch verwickelt habe. Interessanter Typ, der zwei deutschen Touristen gleich einer ganzen Stadt ein weltoffenes und offenherziges Gesicht vermittelt. Als wir rechts in die Rue du Commandant Penciolelli einbiegen, führen zahllose flache Treppenstufen den Weg wieder hinauf in den Kern der Altstadt. Links über uns strahlt in mediterranem Gelb die Chapelle Saint Théophile. Kurz dahinter taucht der markante Glockenturm der Église et campanile l'Annonciation in einem leicht pinken Erdton auf.

Wir schlendern über den Platz vor der Chapelle Saint Théophile. Zwischendrin hört man immer wieder die schrillen Schreie der Schwalben. Die Hausfassade, auf die wir jetzt hinabblicken, ist etwas ganz Besonderes. Sie trägt noch ihre alte Bemalung: "Boulangerie Patisserie" steht dort in grünlichem Grau auf fleckigem Gelb geschrieben. Hier war offensichtlich mal eine (Fein-) Bäckerei. Die schöne Fassade ist zum Glück erhalten geblieben. Die alten Gemäuer werfen in der tief stehenden Sonne harte Schatten. Die Gasse hinter der Bäckerei führt verwinkelt in die Schatten der Hinterhöfe des Quartier Chiostra. Dort befinden sich einige Töpfereien und Kunsthandwerker. Der Blick auf die Szene lädt eigentlich dazu ein, den ganzen Abend hier zu bleiben und zu beobachten, wie sich der harte Kontrast mit dem Verlauf der Sonne verändert. Aber wir sind ja noch auf Entdeckungstour.

Zwei Ecken weiter liegt bereits die Place Gaffory. Jean-Pierre Gaffory, einer der Söhne der einstigen korsischen Hauptstadt, eroberte die Zitadelle Cortes von den Genuesen und wird seitdem als Held der Nation gefeiert. Gottesmutter wacht mit Kind von der Église et campanile l'Annonciation über die Touristen, die sich die Zeit bis zum Abendessen mit einem Bier, Aperol oder Orangina totschlagen. Währenddessen weist Gaffory auf der anderen Seite des Platzes über ihre Köpfe hinweg zielstrebig in Richtung Zitadelle.

Mit einem Auge schauen wir uns die schönen Ecken Cortes an, das andere Auge blinzelt bereits auf die Speisekarten der noch leeren umliegenden Restaurants. Es ist kurz nach halb sieben. Bis zum ersten Ansturm dauert es noch eine knappe halbe Stunde. Zwar ist der Appetit bereits geweckt, wir erlauben uns aber noch einen Abstecher zum Parkhaus Tuffelli. Also staksen wir die flachen Treppen der Rue Monseigneur Saveur Casanova herunter, immer wieder einen Blick auf die Speisekarten werfend. Wieder an der Place Paoli angekommen, blicken wir direkt auf die gegenüberliegende Hausfassade, die fast schon wie prototypisch das wiederkehrende Fenstermuster Cortes zeichnet.

Links, rechts, links, runter. Und schon finden wir uns im Parkhaustreppenhaus wieder. Ja, ein Parkhaus ist ein seltsamer Ort für Sightseeing. Dieses Parkhaus hier hat uns nochmal hergelockt, denn wir möchten die bizarre Atmosphäre auf dessen Dach auf uns wirken lassen. Laute Musik dröhnt uns entgegen. Wir schauen uns um. Rechts ein kleiner, moderner und bunter Spielplatz. Der einzige, kräftige Farbklecks in einer eher gedeckten Szene. Zwei Mädchen rutschen gerade die orange Rutsche hinunter. Links grenzt ein Wohnhaus an das Parkhaus. Während wir ein Stück weitergehen, fallen uns die Eingänge zu Bars und Diskotheken auf. Sie verschwinden im Wohnhaus. Ich bezweifle, dass sie noch in Betrieb sind. Die laute Musik dagegen kommt von der verlassen wirkenden Bar am Ende des Parkdecks. Sie versucht edel zu wirken. Die Schnapsflaschen und Weingläser glitzern hinter der Theke. Die schwarzen Barhocker wirken unauffällig. Sie wirkt eher wie eine Requisite aus einem Film: Eine Strandbar inmitten von Palmenstummeln in einer bröckelnden Gegend. Deplatziert, aber interessant. Drei Menschen sitzen an der Theke und genießen ihre Longdrinks. Während ich mich zwei Schritte rückwärts bewege, stoße ich mit etwas zusammen - das Knistern einer Papiertüte. Es blicken sich jetzt zwei Männer an. Einer mit Kamera in der Hand, der andere eine Einkaufstüte vor seinem Bauch hertragend. Beide gerade noch rückwärts unterwegs. Auf einem fast menschenleeren, riesigen Parkdeck stoßen zwei Männer rückwärts gehend zusammen! Als wären wir eine andere Spezies, die keine andere Form der Fortbewegung kennt. Fast wie Krabben eben. Kurze Stille und wir brechen in Gelächter aus. Er kämpft sichtlich mit den Worten, weiß nicht auf welcher Sprache er mich anspricht. Da er sich gerade noch mit seiner Frau und den Mädels (Anna und Hannah übrigens) auf Deutsch unterhalten hat, ist das schnell geklärt. Wahrscheinlich hoffen wir beide gerade auf das Ausbleiben fieser Kommentare unserer weiblichen Begleitungen. Wir überspielen das natürlich ganz geschickt.

Das Sonnenlicht driftet in ein immer wärmer werdenden Gelbton. Bald verschwindet sie hinter den uns einkesselnden Bergen. Viertel nach sieben. Zeit für's Abendessen. Diesmal die Außentreppe, Straße rechts hoch, links, wieder rechts und die flachen Treppen hoch. Auf dem Hinweg haben wir uns drei Kandidaten in der Rue Monseigneur Saveur Casanova ausgeguckt. Die Gaststätte auf halber Höhe soll's werden. Wir nehmen auf dem gemütlichen, leicht beengten Hinterhofbalkon Platz und lassen uns Canneloni und eine Pizza kommen. Die Schwalben ziehen schrill schreiend ihre letzten Runden. Während des Essens sind wir uns einig, morgen ganz entspannt den Bewegungsradius in Corte etwas auszudehnen. Nun treibt uns die blaue Stunde aber erstmal wieder durch die Gassen der Altstadt. Es ist nach neun.

Eher staunend als fotografierend halten wir uns ein bisschen im Kunsthandwerkerviertel auf. Wir spazieren ziellos und im Zickzack durch die Stadt durch uns bekannte und unbekannte Ecken und die Zeit vergeht wie im Flug. Der größte Ansturm auf die Restaurants ist nun auch vorbei. Wir genießen es, wie die Stadt immer ruhiger wird und zufriedene Gesichter ihren Heimweg antreten. Der Mond sorgt dafür, dass die Rolle, die Pascale Paoli in der Hand hält, zur Taschenlampe wird. Mittlerweile ist es auch ruhig im Weinkeller. Die Türen stehen noch weit offen. Das Innere verspricht eine urige Gemütlichkeit zwischen Weinflaschen und -kartons. Hinter dem Weinkeller ist eine verschlafene Gasse. Sie wirkt unordentlich und aufgeräumt zugleich. Ein kleines korsisches Stillleben. Während Corte also die Bürgersteige hochklappt, haben nur noch einige wenige Bars geöffnet. Wir fläzen uns auf die grünen Plastikstühle der Bar de la Haute Ville an der Place Gaffory und versuchen Ordnung in die Erinnerungen dieses abwechslungsreichen Tages zu bringen. Es dauert nicht mehr lang, da schlendern auch wir mit zufriedenen Gesichtern die kurze Strecke bis zur Unterkunft. Es trennen uns nur noch 120 flache Stufen vom Schlaf.

Die Nichtreise in der Reise Bei den Rotmilanen von Calacuccia