Nach einem vielschichtigen, aber entspannten Tag mit zahlreichen Eindrücken erwartet uns heute ein eher "gemütlicher" Tag. Ich möchte mal vorsichtig alle Tage, an denen wir das Auto stehen lassen, als "gemütliche Reisetage" bezeichnen. Die Nichtreise in der Reise sozusagen. Dass gemütliche (Nicht-)Reisetage anstrengend sein können, haben uns die Tage in Bastia sehr deutlich gemacht. Aber sich einen Tag lang nur zu Fuß zu bewegen, hat etwas Sanftes, Fokussierendes.
Wir brechen gleich zu Beginn des Tages mit der Definition eines gemütlichen Tages. Aber nur kurz! Wir möchten die Knutschkugel und uns aus den undurchsichtigen Fängen des Tuffelli'schen Viertelstundentaktes befreien. Es ist Montag. Gestern parkten wir erwartungsgemäß gratis und der Wochentarif setzte dann gleich um 0 Uhr ein. Als wir am Parkautomaten stehen - es ist kurz nach zehn - haben wir bereits knapp neun Euro zu zahlen. Der Viertelstundentakt ist im Sommer gestaffelt von 50 Cent über 30 Cent bis schließlich 20 Cent je Viertelstunde ab Stunde vier. In unmittelbarer Nähe befinden sich zahlreiche Gratisparkplätze. Sie gehören zum Mariani-Campus der Universität von Corte. Trotz der universitären Zugehörigkeit ist uns gestern bei den Recherchen nichts aufgefallen, was dagegen spräche dort zu parken. Wenn auch nicht explizit von der Beschreibung der Unterkunft erwähnt: Das muss die kostenlose Parkmöglichkeit sein, die zur Unterkunft "dazugehört". Die Beschreibung war - wohlwollend ausgedrückt - etwas missverständlich formuliert. Wir fahren also um zwei Ecken ein Stück aus der Altstadt heraus und steuern auf das Universitätsgelände zu. Das an den Parkplatz angrenzende Gebäude scheint die Mensa zu sein. Wir stellen das Auto in der rechten hinteren Ecke der sonst fast leeren, großen Betonfläche ab. Eine junge Frau übt hier das Mopedfahren. Ein kleiner Teil der trockenen Böschung, an die der Parkplatz angrenzt, scheint erst kürzlich gebrannt zu haben. Wir hoffen auf's Beste. Es führt eine lange, schmale Hängebrücke direkt vom Parkplatz weg. Ein wenig bilde ich mir ein, dass sie wackelig ist. Auf ihr schwebt man über den Ort hinweg, an dem sich die Flüsse Restonica und Tavignano begegnen. Rechterhand, auf der Landzunge, die beide Flüsse zusammenführt, stehen die nackten Grundmauern eines Gebäudes, das ein wenig deplatziert wirkt. Wir wissen nicht, was das mal für ein Gebäude war. Scheinbar wird der Platz aber auch nicht anderweitig gebraucht. Eigentlich wirkt auch die Hängebrücke deplatziert. Sie passt vielmehr in einen Nationalpark oder Baumkronenpfad.
Das Ende der Brücke verliert sich irgendwo im Dickicht. Dort winden sich einige Treppenstufen herauf auf die Ebene einer verkehrsberuhigten Straße. Linkerhand eine Grundschule, vor der junge Eltern Schlange stehen, um ganz offensichtlich ihre Kinder abzuliefern. Eine uns ungewöhnlich erscheinende Uhrzeit. Beginnt jetzt erst die Schule oder wird hier im Schichtbetrieb unterrichtet? Wir verstehen nicht ganz. Die Wohnanlage vor uns besteht aus schlichten Plattenbauten mit betont geschlossenen Balkons. Wir biegen rechts ab in die Avenue 9 Septembre und laufen direkt auf ein pompöses Universitätsgebäude zu. Schon von weitem begrüßen uns die weißen Lettern auf schwarzem Grund: "Università di Corsica Pasquale Paoli - Campus Grimaldi". Wie es wohl ist, Student auf Korsika zu sein? Mir ist noch nie eine Veröffentlichung dieser Uni begegnet. Das mag aber auch an den Fachbereichen liegen. Corte ist die einzige korsische Universitätsstadt. Es gibt einige Außenstellen und Forschungsinstitute in Bastia, Ajaccio oder etwa Cargèse (wo wir ja gestern waren), aber das korsische Studentenleben spielt sich im Semester wohl hier ab. Und, wie ich finde, spürt man das irgendwie auch abseits des Campusviertels, in dem wir uns gerade befinden. Viel erfährt man nicht über diese Uni: Sie ist mit 4700 Studierenden recht klein und existiert in der Form seit 1981, sieht sich aber in der Tradition der ersten korsischen Universität. Deren Bestehen währte auch nicht lange, nämlich von 1765 bis 1769. Bis zu dem Jahr also, in dem Korsika seine Unabhängigkeit verlor und in französische Herrschaft überging. Trotz seines weltoffenen Images, das sich die Universität zu geben versucht, ist ihre Auferstehungsgeschichte umstritten: Nationalismus hier, Nationalismus da. Hach, Korsika, du machst es einem nicht einfach, deine Geschichte zu begreifen. Einige Schritte hinter dem Grimaldicampus gehen wir wieder auf eine Brücke zu. Sie führt über den Restonica. Kurz davor eine kleine Kapelle: die Chapelle Saint Antoine. Davor sind Stühle aufgestellt, scheinbar in Vorbereitung auf einen Gottesdienst. Die Fassade der Kapelle ist gelb und weiß gehalten, davor steht eine Statue eines Mönches mit Kind auf dem Arm. Dreht man sich in die entgegengesetzte Richtung, hat man durch ein Meer blühender Blumen und Sträucher hindurch einen Blick auf die Zitadelle: Häuser, die wie aufeinandergestapelt wirken.
Es sind nur noch zwei Schlenker, und schon befinden wir uns wieder in der Altstadt Cortes. Wir genehmigen uns einen Mittagssnack in einem Café. Der Verkehr fließt hier dicht an den Außenbereichen der verschiedenen Lokalitäten entlang. Man könnte den Beifahrern den Kopf streicheln, wenn man die Hand ausstreckt. Das lassen wir natürlich bleiben. Es wirkt, als würden einige der Autos zum wiederholten Mal hier vorbeifahren. Gestärkt machen wir uns auf den Weg in die Zitadelle hoch. Der Übergang zwischen Altstadt und Zitadelle ist fließend, der Aufstieg schmerzlos. Ehe wir uns versehen, befinden wir uns über den Dächern der Stadt. In den großzügigen Gemäuern befindet sich ein Museum. Rechts davon ein schmaler Durchgang. Wir befinden uns plötzlich im Hof einer Künstlergruppe. Wegen des Ausblicks bleiben wir einige Momente: Wir spähen über die Mauern und haben einen tollen Blick auf die Stadt. Als wir den Parkplatz im hinteren Bereich der Zitadelle erreichen, sehen wir die in den Hang gebauten Wohnhäuser. Einige der Terrassen, die wir von hier erspähen, sind sehr luxuriös: Mit Pool ausgestattet oder schön bepflanzt. Erstaunlicherweise nicht beides gleichzeitig.
Vom Museum aus führt ein kleiner Weg zu einem erhöhten Aussichtspunkt. Es gilt, einige Treppenstufen zu überwinden, diesmal kleiner und steiler, als wir es von hier sonst gewohnt sind. Man muss an einem Restaurant und einigen Souvenirhändlern vorbei. Die polnischen Touristen unterhalten sich gerade darüber, für einen Restaurantbesuch zusammenzulegen und sich nen schönen Nachmittag zu machen. Unser Blick schweift über das ganze Stadtgebiet und die nahegelegenen, grünen Berghänge.
Ziel- und planlos, wie wir das manchmal gerne machen, geben wir uns weiter dem Zufall hin. Wir wandern einfach so durch die zahllosen, engen Gassen Cortes und saugen die Eindrücke in der gleißenden Nachmittagssonne auf. Die vormittägliche Geschäftigkeit der einzigen bedeutenden Stadt Zentralkorsikas ist ein kleines bisschen einer siestaähnlichen Trägheit gewichen. Corte ist, mehr noch, als die anderen Orte, die wir bisher gesehen haben, ein Ort des Schattenspiels. Wenn man sich darauf einlässt, versprüht die Altstadt eine warme Melancholie. Das Einheitsgrau der historischen Fassaden wird von zahlreichen Farbsprenkeln aufgelockert. So etwa auch durch das Gebäude, in dem sich der kleine Laden von Jean Marie Ghionga befindet: Es ist in knalligem Orange gestrichen, die Markise ist dunkelgrün und trägt die Aufschrift "Produits Corses" - ein echter Hingucker und bei einem Altstadtspaziergang absolut nicht zu verfehlen. Seine Geschichte geht zurück auf das Jahr 1769. Damit ist der Farbsprenkel einer der ältesten Einkaufsläden Europas. Welch Wunder, auch hier wieder die magische Jahreszahl, die mit Corte und Korsika unauflöslich verbandelt ist.
Die Zeit plätschert nur so vor sich hin. Wir spazieren den Cours Paoli ein ganzes Stück stadtauswärts. Cafés und Modegeschäfte, Immobilienmakler und Touristenläden wechseln sich hier dicht an dicht ab. Schließlich biegen wir willkürlich in die Rue du Colonel Feracci. Die Ladengeschäfte weichen zugunsten von Wohnhäusern und Büros. Bald schon, zu unserer Linken, taucht die Chapelle Sainte-Croix auf. Ihr Inneres ist heimelig und pompös zugleich. Es riecht dezent nach Weihrauch. Im hinteren Bereich der kleine Chor, hinter dessen kunstvoll bemalten Brüstung der Prospekt einer kleinen Orgel hervorlugt. Wir gehen die Rampe Sainte-Croix zurück in Richtung Cours Paoli. Nach diesem kleinen, ruhigen Umweg erscheint mir die Straße wieder geschäftig und hektisch.
Etwas später dann kehren wir zum Abendessen auf der Place Gaffory im U Campanile ein. Wir hatten gestern schon einen Blick darauf geworfen. Vorwiegend wegen der zufriedenen Gesichter der Gäste. Das korsische Dreigängemenü schmeckt hervorragend und an diesem zentralen Platz hat man immer etwas zu gucken. Es ist nun kurz nach neun, der Himmel taucht in ein abendliches Blau. Wir gehen zwei Schritte weiter und setzen uns auf die Plastikstühle der Bar de la Haute Ville. Schon gestern fanden wir die Dynamik in diesem Lokal ganz faszinierend. Die Wirte, ein Endzwanziger und ein Teenager, wahrscheinlich Brüder, kümmern sich um das Wohlergehen der Gäste, während sich die Bar zunehmend mit jungen Einheimischen füllt. Es scheint die Clique der Wirte zu sein. Neben der Bar befindet sich eine Sandwicherie, die auch irgendwie mit dazugehört. Die beiden Männer scheinen hier wirklich jeden zu kennen. Immer wieder halten Sie einen Plausch mit vorbeigehenden Bekannten unterschiedlichen Alters. Die Stimmung ist gut, es wird viel gelacht. Ab und zu huscht der jüngere Bruder in die Sandwicherie, um seine Freunde mit einem Snack zu versorgen. Währenddessen baut vor ihr eine ältere Dame, sicher über 90, zwei große Kisten auf. In der einen Besteck und Servietten, die sie fein säuberlich zusammenrollt und in die zweite Kiste legt. Ein richtiges Generationenprojekt. Die Dame strahlt etwas Vornehmes aus, trotz ihrer vom Leben gezeichneten Gesichtszüge. In ihrem Tempo bringt sie dann die Kisten nach getaner Arbeit zurück in den Laden und verschwindet wortlos in den spärlich beleuchteten Gassen Cortes. Charlaine, die Bedienung aus dem U Campanile, scheint dagegen Jérémie, dem jüngeren der beiden Wirte, gehörig den Kopf verdreht zu haben. Sie schäkern miteinander, während sie die Deko von den Tischen der letzten Gäste abräumt.