Reiseskizzen Norwegen 2024

Nordwärts...

... bis die Sonne nicht mehr untergeht

Es wird mit Abstand unsere längste Anreise werden, fast 60 Stunden von Tür zu Tür, vier verschiedene Fortbewegungsmittel in vier Ländern, um am Ende für knapp über drei Wochen ohne Nacht in der Mitternachtssonne Nordnorwegens zu verbringen. Zu dieser Jahreszeit kommt man nicht ganz mühelos an diesen entlegenen Ort jenseits des Polarkreises.

Ein monotones Rauschen hüllt uns ein. Alle paar Minuten öffnet sich die Durchgangstür zum Nachbarwagen. Dann gesellt sich zu dem Rauschen ein schrilles Fiepen, einer startenden Turbine so ähnlich, dass die Geräuschunterdrückung meiner Kopfhörer gar nicht erst dagegen ankämpft. In Poznań haben wir uns in diesen übervollen Zug gepresst, der dankenswerter Weise auf unseren verspäteten Zug aus Berlin gewartet hat. An einen Sitzplatz ist aber nicht zu denken, irgendwie klappte es im Gegensatz zum Zug davor mit der Sitzplatzreservierung im Vorfeld nicht.

Gut, technisch gesehen sitze ich mittlerweile: auf dem Treppenabsatz im Eingangsbereich des Fahrradwagens. Vor mir das Klo, rechts von mir unser Gepäck aufgetürmt wie die Festungsmauer der Marienburg in Malbork. Teresa erträgt das alles stehend auf dem anderen Treppenabsatz und beobachtet das Schauspiel, wenn ich die auf das Klo zustürmenden Fahrgäste mal mit „zajęte“, mal mit „wolne“ begrüße - unterstützt durch die passende Handbewegung. Der Türknauf ist störrisch und die von der menschlichsten aller Nöte geplagten Mitreisenden sind ungeduldig. Zu Beginn wurden wir wegen unserer strategischen Nähe zum Klo noch gefragt, mittlerweile verschwende ich meine Zeit nicht mehr damit, auf die Frage zu warten. Ich nehme die Aufgabe an, die das Zugvolk mir gegeben hat, stelle mich gewissenhaft in den Dienst der polnischen Bahngesellschaft und verhindere, dass der Blick auf einen blanken Hintern uns allen erspart bleibt. Alles nur wegen eines schwergängigen Knaufs, den nur wenige Auserwählte in der Lage sind korrekt zu bedienen. Das Zischen der Klospülung weist auch jeden Zweifler in seine Schranken, der denkt ich wolle ihn in einem Anfall von Hochmut um seine Erleichterung bringen, wenn die Sitzung des Vorgängers mal länger dauert. Egal, der leuchtende Blick der frisch Erleichterten ist Lohn und Dank genug. Und in meinen zweieinhalb Dienststunden werde ich nur einmal nachlässig.

Situationen wie diese haben wir uns ausgesucht, als wir uns dafür entschieden haben, dem eigentlichen Ziel 60 Stunden lang entgegenzufahren. Ein Fünkchen Wahrheit steckt im alles und nichts sagenden Satz „Der Weg ist das Ziel“. Klar, bei der Planung dominierte die Vorstellung eines verträumten Blicks aus dem Fenster, bei dem schönste Landschaften jeglicher Art am gemütlichen Sitzplatz vorbeirauschen. Und trotz (oder gerade weil?) nicht jeder Moment so verklärt sein kann, stellt sich endlich die Gewissheit ein, dass viele neue Eindrücke und Erlebnisse vor uns liegen und der Alltagsstress sehr bald sehr weit hinter uns bleibt.

Wir fahren in den Bahnhof Bydgoszcz ein und ich merke, dass diese Gegend Polens ein komplett unbeschriebenes Blatt für mich ist. Ich habe keinen blassen Schimmer von den Städten, von der Landschaft oder wofür der nördliche Teil Zentralpolens eigentlich bekannt ist. Wird diese Gegend unterschätzt oder zeigt sich da einfach nur eine große Wissenslücke auf?

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Die hügelige Landschaft ist mit goldgelben Getreidefeldern überzogen - ein Bild das ich eher dem Spätsommer zugeordnet hätte. Es ist ein schönes Bild und irgendwie stelle ich mir gerade vor, wie wir in weiter Zukunft mit dem Fahrrad über die Feldwege und weiten Alleen fahrend die Gegend erkunden.

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Als wir in Gdańsk ankommen ist es brütend warm. Als noch die letzten Reisenden ihre Koffer aus dem Zug heben, setzt sich dieser bei offenen Türen in Bewegung. Ab jetzt haben wir noch sechs Stunden Zeit, die wir in Gdańsk verbringen dürfen. Zu wenig Zeit um uns im Detail mit der schönen Hansestadt auseinanderzusetzen. Aber wir frischen bei Kotelett, Kartoffeln, Hackbraten und roter Beete die Erinnerungen unserer ersten gemeinsamen Reise auf. Damals haben wir mit dem ausgedienten Auto meiner Eltern einen Roadtrip nach Warschau und die polnische Ostsee gemacht. Auch ein Tagesausflug nach Gdańsk gehörte dazu.

Am Nebentisch sitzt ein ausländisches Pärchen, vermutlich Influencer, auf das mich erst Teresa aufmerksam macht. Mit professionellem Equipment ausgestattet interviewen sie sich gegenseitig, was sie von dem authentischen Essen der Milchbar halten. Sie sind begeistert. Eine „Milchbar“ ist hier eine Art einfaches Restaurant mit Hausmannskost zum kleinen Preis. Das Essen ist in diesem besonderen Fall zwar kalt, schmeckt aber gut und ist authentisch, wenn man nach polnischer Küche sucht.

Mit unserem Gepäck schlendern wir weiter über den Langen Markt. Hier tummeln sich inmitten der Touristen und Einheimischen vor allem Pantomimen, lebende Statuen und Musiker:innen. Man merkt, dass der Ort sich künstlerisch vielfältig darstellt. Irgendwie entsteht auch der Eindruck als befänden wir uns in einer Mischung aus Bremen und Venedig. An Vieles, das wir hier auf unserem ersten Roadtrip gesehen haben, erinnern wir uns nur bruchstückhaft. Vieles hat sich sicher in den Jahren auch verändert. Und jetzt, wo wir feststellen wie einfach man mit dem Zug hierher reisen kann, beschließen wir der Stadt in Zukunft mal mit der angemessenen Aufmerksamkeit zu begegnen. Heute ist sie für uns mehr ein Versorgungspunkt.

Es folgt ein weiterer Stopp in einer kleinen Craftbier-Bar direkt an der Marina der Hansestadt, bevor wir uns noch für die Überfahrt im Supermarkt mit Proviant eindecken.

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Die anschließende Busfahrt zum Gdańsker Fährterminal erinnert mich an das „Trauma“ der kaukasischen Überschallfahrt. Damals haben wir wenigstens gesessen, jetzt werde ich stehend mit Gepäck zum Spielball der Fliehkräfte auf der Gdańsker Stadtautobahn. Umso sanfter kommt der Bus dann auf der historisch bedeutsamen Halbinsel Westerplatte zum Stehen.

Wir haben noch zwei Stunden bis wir spätestens an Bord der M/F Wawel sein müssen. Der weiß gestrichene Stahlkoloss türmt sich vor uns imposant auf, während die LKW bereits in den Innereien der unteren Decks verschwinden. Hier, im dem Terminal nahe gelegenen Biergarten eines Fischrestaurants, verbringen wir die restliche Zeit, beobachten die vorwiegend Einheimischen bei Bier mit und ohne Sirup. Schließlich trennt uns nur noch ein langer Gang von der 18-stündigen Überfahrt nach Skandinavien.

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