Reiseskizzen Norwegen 2024

Schwelle für Schwelle

Die ersten beiden Etappen sind geschafft. Halbzeit. Als wir in den Hafen von Nynäshamn einlaufen, haben wir mit der Fähre knapp 550 Kilometer zurückgelegt und waren 18 Stunden an Bord. Die Eindrücke der Fahrt sind vielfältig.Vielfältig sind auch die ersten Eindrücke von Schweden. Links von uns ist der bewaldete Fels mit bunten Farbtupfern übersäht. Kleine Hütten, meist im dunklen Rotton gestrichen und mit Bootsanleger ausgestattet. Rechts von uns befindet sich dagegen ein graues, dicht bebautes und geschäftiges Industriegebiet. Mittendrin ein Fackelturm, der eine grelle Flamme speit.

Bunte Hütten auf der einen, ... ... Industrie auf der anderen Seite

Stockholm

Die Zugfahrt von Nynäshamn nach Stockholm dauert eine knappe Stunde. Dann steigen wir am wohl imposantesten Bahnhof aus, den ich bislang gesehen habe. Der Bahnsteig ist durch einen zweiten Satz Schiebetüren zusätzlich gesichert. Unendlich lange Rolltreppen braucht es, bis wir in der Empfangshalle auf Bodenniveau stehen. Es geht hier geschäftig und hektisch zu. Insbesondere auf den Rolltreppen scheinen es die Schweden besonders eilig zu haben. Wer kann es ihnen verdenken, wenn man die lange Fahrt vielleicht sogar täglich machen muss? Und doch ertappe ich mich bei dem unsinnigen Gedanken die Menschendichte hier zu hinterfragen: "Aber hier leben doch nur 10 Millionen Menschen auf so riesiger Fläche". Stockholm kratzt an der Millionenmarke und natürlich ist Stockholm eine Metropole wie jede andere auch. Hier am Hauptbahnhof der Hauptstadt Schwedens hat das Gewusel nun wirklich nicht zu wundern. Selbst in Reykjavik haben wir am eigenen Leib erfahren, wie geschäftig eine Stadt sein kann, und wie hektisch ihr Straßenverkehr, auch wenn sie nur knapp die Hälfte der Einwohner Treptow-Köpenicks hat.

Ebene für Ebene eine weitere gewaltige Rolltreppe im Hauptbahnhof Stockholm

Innerlich haben wir uns schon auf skandinavische Preise eingestellt. So schlucken wir zwar bei den knapp 6 stündlichen Euro für die Gepäckaufbewahrung, nehmen sie aber wegen des dazugewonnenen Komforts in Kauf. Immerhin ist bei 300 Kronen Schluss. Wir haben 10 Stunden Zeit uns die Stadt ein wenig zu erlaufen. Eine ganze Weile klappt das sehr gut. Das, was wir von der Stadt sehen, macht Lust auf mehr. Je stärker aber der Regen fällt, desto deutlicher fällt der Plan buchstäblich ins Wasser. Die Erkundungspläne schieben wir also vollständig an das Ende der Reise. Auch hier wird es damit eher ein - zugegeben sehr entspannter - Boxen-Stopp.

Stockholm Stockholm Stockholm Stockholm

Die Sache mit dem Zug

Während im Hintergrund das Fußballspiel England gegen Slowakei läuft, der Regen unaufhörlich auf die Markise prasselt und uns die Heizstrahler im Außenbereich des "Auld Pub" halbseitig eine knusprige Kruste bescheren, nutze ich Gelegenheit mich in die nicht enden wollende Warteschleife der Vy-Hotline zu begeben.

Im "Auld Pub" Im "Auld Pub"

Vy, das ist das norwegische Bahnunternehmen, das die Nachtzüge in den Norden anbietet. Schon seit einigen Monaten lassen sie uns in unregelmäßigen Abständen ein Stück weit verzweifeln. Kurzum zum Hintergrund: Wegen einer Entgleisung im Winter finden nun Reparaturarbeiten an der Strecke statt. Die Fertigstellung ungewiss ist und verschiebt sich mehr und mehr nach hinten. Züge werden freigegeben und kurz darauf wieder storniert, eine kurzfristige Freigabe von Zugverbindungen in Aussicht gestellt und dann wieder verworfen. Der entscheidende Moment des planbaren Verkehrs fällt also vermeintlich irgendwo in das Zeitfenster, in dem wir den Zug nehmen wollen.

Mittlerweile haben wir zwei verschiedene Zugverbindungen für heute Abend gebucht, in der Hoffnung, dass schon eine davon klappen wird. Unsere präferierte (mit nur einem Umstieg) ist erst seit vorgestern verfügbar. Heute ist die Buchung plötzlich aus der App verschwunden. Nach den bisherigen Erfahrungen ein ungutes Zeichen. Innerlich freunde ich mich schon mit Plan C an: Kurzfristig Mietwagen buchen und die 1200 Kilometer one-way nach Kiruna fahren. Eine knappe halbe Stunde später versichert mir der betont freundliche Herr, dass "soweit er es zum jetzigen Zeitpunkt nach seiner Informationslage beurteilen könne", heute alle geplanten Fahrten stattfinden. Die Vorsicht in seiner Aussage nehme ich nur bedingt beruhigt zur Kenntnis und stecke Plan C erstmal wieder ganz vorne in den Giftschrank.

Unsere gebuchte Alternative stornieren wir erst, als wir den Zug in der stolzen Bahnhofshalle angeschlagen sehen und er Stelle um Stelle weiter nach vorne rutscht: 21:55 Vy Nattåg Nr 92 von Gleis 12.

Eindrücke vom Hauptbahnhof Eindrücke vom Hauptbahnhof Eindrücke vom Hauptbahnhof Eindrücke vom Hauptbahnhof

Gegenüber der Filiale einer amerikanischen Burgerkette finden wir unsere Basis für die nächsten zwei Stunden. Die Bahnhofshalle ist eine spannende Mischung aus modern und alt. Die Beleuchtung ist atmosphärisch. Und obwohl der Bahnhof mit seinen vielen Ebenen sehr wuselig ist, findet man hier einladende Bänke und ein kleines Bisschen Rückzug. Um uns herum wird das Treiben mit der Zeit immer bunter, der Ort immer mehr zu einem kuriosen Nachttreff. Für uns wird es ohnehin langsam Zeit zu gehen.

Schwelle für Schwelle dem Polarkreis entgegen

Mit freigekauftem Gepäck und Vorfreude stehen wir am Bahnsteig 12. Der Zug rollt ein. Es scheinen einige wenige Fahrgäste bereits an Bord zu sein. An unserem Bahnsteig tummelt sich auch nur eine handvoll Menschen. Unsere Nachbarkabinen im letzten Wagen sind leer. Wir vermuten, dass kaum jemand die kurzfristig entstandene Zugverbindung wahrgenommen hat und die ursprüngliche Verbindung umso ausgelasteter sein wird.

Im letzten Wagen zu reisen hat auch Vorteile

Unser Reich für die nächsten 12 Stunden: drei übereinanderliegende Betten, ein Waschbecken und reichlich Steckdosen. Logistisch schon zu zweit eine Herausforderung, aber irgendwie gemütlich. Im Wagen gibt es zwei Toiletten und eine geräumige und komfortable Dusche. Es dauert nicht lange, bis wir uns unter beachtlichem Schaukeln in die Kojen bewegen. Es ist gegen Mitternacht und es dämmert noch. Mir dämmert es, dass das die letzte Dämmerung für drei Wochen sein wird. Die Fichten- und Kieferwälder rauschen an uns vorbei, ab und zu hört man die Glocke eines Bahnübergangs an uns vorbeibimmeln. Selten halten wir kurz an einem Bahnhof. Das einzige Geräusch im Zuginneren kommt von der Lüftung. Ist sie mal aus, gleitet der Zug lautlos über die Schienen. Trotz des Geschaukels wird es eine erholsame Nacht. Erholsam auch der Morgen danach: Eine warme Dusche, ein mitgebrachtes Mandelbrot und frischer Kaffee vom Bordrestaurant sind gerade wahrer Luxus, den wir wirklich zu würdigen wissen. Es sind die Details, die zwischen erholsam und stressig entscheiden.

In Boden, knapp südlich des Polarkreises, haben wir eine Dreiviertelstunde Aufenthalt. Es ist warm, um die 15 Grad. Der Bahnhof ist verschlafen und sieht aus, als würde er in den Schwarzwald ganz gut hineinpassen.

In Boden Central In Boden Central In Boden Central In Boden Central

Dreieinhalb Stunden mit dem Regionalzug trennen uns von unserem vorletzten Etappenziel: Kiruna. In den bequemen Sitzen sehen wir zum ersten Mal, dass sich an der Vegetation etwas nennenswert ändert: Die Bäume sind niedriger, es wirkt eine ganze Ecke karger als in Zentralschweden. Etwas bleibt aber konstant: Wir haben fast durchgehend Empfang, schnelles Internet über unser Handy und wenn nicht dort, dann über das Bord-WLan. Es entsteht der Eindruck, als hätten die Schweden in einem Flächenland etwas hinbekommen, das uns in Deutschland selbst in Ballungsräumen nicht gelingen möchte.

Kiruna kündigt sich durch eine gewaltige Erzmine an. Die Bahnstrecke führt dort regelrecht hindurch. Großes Gerät und Geröll soweit das Auge reicht: Das ist noch einmal eine ganz andere Größenordnung von "karger Landschaft". Hier satteln wir auf den Mietwagen um. Zugegeben: Wir suchen eine ganze Weile nach der Autovermietung. Allerdings hat man hier nicht zu suchen - man wird gefunden. Was wir nämlich nicht wussten: Es gibt hier gar keine Filiale, sondern eine Mitarbeiterin, die und den Schlüssel zum Bahnhof bringt. Wenn man's weiß ganz einfach eigentlich.

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