Abgesehen von dem Schlenker ostwärts in Richtung Gdańsk, bewegten wir uns die letzten beiden Tage nahezu in gerade Linie nach Norden. Breitengrad für Breitengrad erarbeiteten wir uns den Weg bis über den Polarkreis: Berlin 52°N, Gdańsk 54°N, Stockholm 59°N und schließlich Kiruna 67°N. Das Sandtorgholmen Hotel - unser erster Stopp - liegt zwischen 68. und 69. nördlichen Breitengrad. Aber Hauptrichtung wird heute westwärts sein, knapp 250 Kilometer, und diesmal auf eigene Faust.
Unterbrochen von nur einem kurzen Versorgungsstopp im Supermarkt, denn die Preise sind hier deutlich günstiger als in Norwegen, fahren wir die E10 entlang. Sie führt auf schwedischer Seite fast durchgehend parallel zur Zugstrecke durch eine Gegend mit niedriger Vegetation. Schon allein für sich genommen haben diese Eindrücke etwas Besonderes. Es ist warm, aber bedeckt. Ab und zu blitzt die Sonne durch und ab und zu zieht ein Schauer über uns hinweg.
Wir haben uns vorgenommen, natürlich keine Ansprüche an das Wetter zu stellen. Als könnten wir das auch beeinflussen. Wir werden uns mit dem zufriedengeben was kommt. Und ich habe nach all den vielen gesehenen Fotos von Nordnorwegen den Eindruck, dass die Gegend fotografisch gesehen dankbar bei jedem Wetter ist.
Das Profil der Landschaft wird bergiger und die Vegetation üppiger je näher wir der norwegisch-schwedischen Grenze kommen. Kurz hinter der Grenze dann kommt das Spektakel fast aus dem Nichts: Hoch oben in den Bergen sind zahlreiche kleine Seen im Fels, hunderte dunkelrot gestrichene Cottages. Leider haben wir hier wegen des dichten Verkehrs nicht halten können.
Ab einem Punkt, etwa 30 Kilometer von Narvik entfernt, markieren die riesigen Windräder auf dem Bergrücken das Ende des Höhenfluges und wir nähern uns allmählich wieder dem Meeresspiegel. Ein, zwei kleine Schauer noch und mit Befahren des östlichsten Auslegers der Lofoten, kurz hinter Bjerkvik, bricht die Sonne vollends durch. Übrig bleiben nur noch milchige Schlieren und kleine Wolkenfetzen. Willkommen im polaren Hochsommer!
Willkommen, setzt euch hin und schaut zu!
Das Sandtorgholmen Hotel liegt auf einer winzigen Halbinsel. Es weht ein frischer Wind, als wir aus dem Auto steigen. Die Rezeption befindet sich im Zentralgebäude und wirkt, als wäre es einst ein stolzes Bauernhaus. Das Wasser glitzert in der tief stehenden Sonne, die angenehme Geräuschkulisse eine Mischung aus dem Rauschen der Wellen und einem aufgedrehten Kreischen der Vögel. Die Einrichtung ist einfach und das Ambiente rustikal-gemütlich, wir fühlen uns auf Anhieb wohl.
Zwei bequeme, gepolsterte Stühle stehen einladend vor den bodentiefen Fenstern. Direkt dahinter wandert die Sonne langsam den Bergrücken entlang als wäre jenseits des Fensters die Bühne und wir das Publikum. Bevor wir es uns hier für den Rest des Abends gemütlich machen, zieht es uns noch raus zu einer kleinen Erkundungstour des Anwesens. Jeder Winkel, jedes Gebäude, jeder Gegenstand strahlt bei diesem Licht etwas Verträumtes aus. Mehr Glück kann man am ersten Tag nicht haben.
Diese Eindrücke aufgesogen fallen wir endlich in die gemütlichen Stühle. Jetzt sind wir angekommen, hier oben zwischen 68. und 69. nördlichen Breitengrad. Nach fast 60 Stunden Anreise. Jetzt schauen wir der Mitternachtssonne bei ihrer Wanderung entlang des Bergkamms zu, so wie wir es uns erträumt haben, tagträumen bei einem schwedischen Leichtbier vor uns her und freuen uns auf das, was noch vor uns liegt.