Wir spekulieren darauf, dass sich die meisten Reisenden nicht mehr spät abends aus dem gemütlichen Rorbu oder Hotelzimmer quälen - obwohl dieses Ziel an der Nordküste prädestiniert für eine Wanderung in der Mitternachtssonne ist.
Ausgangspunkt der Wanderung ist das winzige Örtchen Fredvang. Es liegt nur wenige Kilometer Luftlinie von unserer Unterkunft entfernt: Einen Schlenker südwärts die E10 entlang und dann nordwärts über die 230 Meter lange Kubholmenleia bru und wir sind auch fast schon da. Diese Brücke hat uns schon bei jeder Vorbeifahrt beeindruckt. Sie führt über eine Engstelle über den Fjord und setzt sich besonders im Abendlicht in Szene.
Es ist halb acht, wir entscheiden uns für die längere, etwas anspruchsvollere Wanderung erst zum Ryten hoch, anschließend dann zum Kvalvika-Strand. Es gäbe noch einen Parkplatz, von dem man mit deutlich weniger Höhendifferenz zum Strand kommt. Das wäre allerdings mit der Verführung verbunden, gar nicht mehr zum Ryten hochzuwandern.
Also tapsen wir entspannt vom Parkplatz in Fredvang (100 NOK) einen holzbeplankten Pfad querfeldein zum Bergsockel entlang. Generell fällt uns auf, dass hier viel für eine bequeme, nachhaltige Infrastruktur getan wird. Wohl eher für Campende als für Wanderer gedacht sind wohl auch mobile Toilettenbeutel gedacht, die hier am Parkplatz ausgegeben werden und die man auf dem Rückweg hier entsorgen kann.
Alle paar Hundert Meter ist der Holzsteg verbreitert und mit einem "M" markiert. Das Symbol, das man auch auf den Straßen für Ausweichbuchten findet.
Die Planken führen noch ein ganzes Stück bergauf und münden in einen Naturpfad. Wir laufen stetig der Sonne entgegen. Die Landschaft ist wahnsinnig grün, am Wegesrand blüht die Vegetation besonders in einem strahlenden Gelb und einem fluffigen Weiß der Wollgräser.
Die Anstrengung auf dem Naturpfad ist um Größenordnungen kleiner, als auf der Sherpatreppe zum Reinebringen. Aber man muss mehr Trittsicherheit mitbringen. Nachdem wir die ersten knapp hundert Höhenmeter hinter uns haben, halten wir kurz an einem spiegelglatten See inne.
In der Sonne ist es warm, ihre Kraft nicht zu unterschätzen - trotz der Tatsache, dass wir uns nördlich des Polarkreises befinden. Die Szene erinnert mich eher an Korsika als dass ich mir hätte vorstellen können, bei so einem Licht durch Nordnorwegen zu wandern. Der Weg wird für ein paar hundert Meter wieder zu einem Steg. Kurz darauf weist ein Schild in Schnörkelschrift auf die Abbiegung nach Kvalvika hin. Wir müssen noch ein ganzes Stück bergauf. Mittlerweile sind wir im Schatten des Ryten unterwegs - es wird frischer, die Magie bleibt.
Hier wird es langsam anspruchsvoll. Der immer steiler werdende Weg ist nicht mehr so klar ersichtlich. Er ist eher ein matschiger Trampelpfad. Der Boden ist durchnässt von den vielen Rinnsalen, die den Ryten hinabfließen. Ein klein wenig verliere ich auch das Gefühl für Entfernungen. Ganz da hinten, unklar wie weit weg, sehen wir die Silhouetten von Wanderern. Sie bewegen sich den Bergrücken entlang, aber deutlich in unsere Richtung. Ich bin überrascht, wie schnell wir an Höhenmetern gewinnen. Wir sind mittlerweile jenseits der 300 Meter und mir schwant, dass der Bergrücken da vorne nicht der Gipfel sein kann.
Tatsächlich taucht hinter dem Bergrücken die nächste Flanke auf. Mittlerweile fällt mein Blick nicht mehr nach oben, eher zur Seite oder an mir herunter. Wir halten kurz auf einem Felsvorsprung inne. Dort unten liegt der Strand, der es zu so einer großen Prominenz gebracht hat. Der von Fotograf:innen, Influencer:innen und in Reiseführern in höchsten Tönen gelobt wird. Zu Recht, wie ich finde.
Menschen dort unten erscheinen von hier oben nur als winzige Punkte. Nicht ihre bunte Kleidung verrät sie, sondern die absurd langen Schatten, die sie hinter sich herziehen.
Mittlerweile traue ich mich auch wieder den Blick nach oben zu richten. Da oben an der markanten Felskante zeichnet sich die Silhouette eines Mannes ab. Hinter ihm leuchtet in blassen Regenbogenfarben eine Nebensonne.
Dort oben muss es sein, der wortwörtliche Höhepunkt unserer Wanderung. Die gestrigen 2000 Sherpastufen hängen mir noch spürbar in den Waden. Auch, wenn es heute deutlich entspannter ist, bin ich des Bergaufwanderns vorerst müde. Doch der Realitätscheck hilft der Motivation ein wenig auf die Sprünge. Unten: Leute klein. Oben: Leute deutlich größer! Die 450 Höhenmeter haben wir geknackt, die letzten hundert packen wir auch noch!
Zehn Minuten später sind wir "oben". Zumindest dort, wo der Silhouettenmann noch sitzt. Ein kleines Stück bis zum Gipfel fehlt uns noch. Aber wir machen hier schon eine Verschnaufpause und beißen in die geschmierten Brote. Diesen Ausblick kann uns schonmal keiner nehmen.
Ein schweizer Wandergrüppchen hat hier bis gerade eben auch Rast gemacht und schultert das Gepäck für das letzte Fitzelchen. Sie brauchen nicht lange, das beruhigt uns.
Nachdem sie oben fleißig Fotos gemacht haben und uns freudestrahlend entgegenkommen, ist auch bei uns klar, dass wir jetzt zum Endspurt ansetzen.
Oben auf dem Gipfel angekommen hat man einen tollen Blick nordostwärts die Küste entlang. Vor den Ryten in Richtung Meer vorgelagert ist noch ein steiler, grün bewachsener Felsen. Es gibt eine Insel kurz vor Island, Elliðaey, auf der nur ein einziges Haus steht. In der Presse wird gerne von dem "einsamsten Haus der Welt" berichtet. Aber ohne sie zuvor mit eigenen Augen gesehen zu haben - so ungefähr stelle ich sie mir vor.
Nach einigem Staunen und einem gemeinsamen Foto auf dem Gipfel stapfen wir wieder abwärts. Es ist mittlerweile nach 22 Uhr. Wenn wir Kvalvika noch im Sonnenlicht sehen wollen, müssen wir bis spätestens halb zwölf dort sein.
Viele ausgetretene Pfade führen nach unten. Auf dem Hinweg ist uns das noch nicht aufgefallen. Wir halten uns nah an der Felskante, was den Weg zwar flacher, aber länger macht. Als wir wieder am Kvalvika-Wegweiser ankommen, führen zahllose Planken durch ein Tal abwärts. Am Ende der Planken dann ein felsiges Terrain. Wir haben tatsächlich unterschätzt, wie weit es von hier noch abwärts ist. Es fehlen uns noch knapp zweihundert Höhenmeter. Aber die müssen wir auch später wieder hoch.
Wenn wir uns auch gern am Strand aufgehalten hätten, so wichtig erscheint uns das plötzlich nicht mehr. Den fantastischen Ausblick hatten wir schon. Den haben wir auch von hier aus auf den Strand.
Sollte morgen das Wetter genauso schön werden, halten wir uns offen, nur die einfache Wanderung zum Strand zu machen. So ziehen wir wieder die Planken bergauf und noch ein kleines bisschen höher, bis zu einer Hütte. Sie ist auf einem Felsen etwas abgesetzt. Den Felsen haben wir auf dem Hinweg umlaufen. Hier packen wir unsere zweite Brotzeit aus und genießen den Blick auf das Tal bei völliger Stille.
Kein Ton weit und breit, nur der eigene Atem und das Rauschen des Winds. Lautlos fliegt eine Eule vorbei. Wir merken, dass wir schon geschlaucht sind. Langsam macht sich auch der Biorhythmus bemerkbar: Es ist genau Mitternacht.
Vorsichtigen Schrittes wandern wir weiter bergab. Am spiegelglatten See von vorhin eine weitere kleine Pause - zu magisch ist die Stille und das sanfte Licht. Von hier haben wir einen Blick auf das Tal, in dem unsere Wanderung begonnen hat und in dem sie später enden wird. Mit der Drohne sehen wir, dass oberhalb des Sees ein noch größerer See liegt. Und wir können uns die Sonne wieder hervorholen. Sonnenaufgang auf Knopfdruck sozusagen.
Als wir zusammenpacken, begegnen wir nun doch noch Menschen. Eine junge Familie folgt uns nun bergab. Zwei junge Männer kommen uns entgegen. Sie haben Kvalvika als Ziel, vermuten wir. Es ist die erste Begegnung mit anderen Menschen seit über einer Stunde, dem eigentlich angemessenen Ansturm sind wir also entgangen.
Wieder einmal kommt der Gedanke, wie merkwürdig es ist, um diese Uhrzeit ganz selbstverständlich bei Tageslicht zu wandern. Wir haben keinen Zeitdruck, vor Dunkelheit zurück zu sein. Wir können uns ganz nach Licht und Wetter richten und uns die Kräfte einteilen, unseren Rhythmus nach Belieben verschieben.
Fast wieder auf Höhe des Parkplatzes angekommen beginnt das warme Orange wieder das Tal zu füllen. Erst die hervorstehenden Felsen und wenige Minuten später glüht das ganze Tal. Es ist ein gelungener Abschluss unserer "Nachtwanderung".
Um kurz nach eins, nach etwa fünfeinhalb Stunden Wanderung, etwa 650 gelaufenen Höhenmetern und 10 Kilometern Fußmarsch sind wir wieder am Auto. Erschöpft und müde, aber unglaublich zufrieden. Genau das, wonach wir gesucht haben.