Reiseskizzen Norwegen 2024

Fløya

Bei den Schafen von Svolvær

Die Sonne wirft scharfe Schatten. Eine große Portion Mittelmeeratmosphäre liegt in der Luft, das übrige skandinavische Flair, die Sprache, die Kennzeichen, die Architektur, das wirkt fast deplatziert. Gegen 18:00 brechen wir auf zu einer der zentralen abendlichen Expeditionen auf dieser Reise: Es geht hoch auf den Bergrücken über Svolvær.

Die schiere Masse an schönen Orten auf Lofoten ist überwältigend. Selbst bei drei bis vier Wochen Reisedauer kommt schnell die Sorge auf, wesentliche Spots zu verpassen. Wir wühlten uns durch Reisereportagen, Blogartikel, Videos, versuchten einen Eindruck davon zu gewinnen, welche Orte wir gerne sehen würden. Quellen unterschiedlicher Couleur, die die Orte zu unterschiedlichen Bedingungen, Jahreszeiten, Lichtstimmungen zeigten. Quellen, die aber meist gemein hatten, dass sie die Wechselhaftigkeit des hiesigen Wetters hervorheben. Wir haben Puffer eingeplant für Schlechtwettersituationen. Und nun: Licht und Sicht sind heute hervorragend. Seitdem wir hier sind, meint es das Wetter überwiegend gut mit uns, die Glückssträhne reißt nicht ab.

Das heutige Ziel ist der Fløya, Svolværs Hausberg mit knapp 590 Metern Höhe. Er stand schon sehr früh während der Planung auf unserer "Müssen-wir-erleben"-Liste. Und er ist mitunter der Grund dafür, dass wir uns für mehrere Übernachtungen in Svolvær entschieden haben. Das Auto können wir stehen lassen, bis zum nordöstlichen Stadtrand ist es nicht weit. Das kleine Warm-Up gibt uns die Möglichkeit, die Stadt ein wenig genauer kennenzulernen.

Vorbei am Yachthafen gehen wir ein Stück parallel zur E10 und biegen dann links an einem Mehrfamilienhaus in ein kleines, ruhiges Wohngebiet, das am städtischen Friedhof liegt.

Vorbei am Hafen... ... und links beim Wohnhaus scharf einbiegen.

Ab hier wird es ernst: Mein persönlicher Endgegner, das habe ich ja schon am Reinebringen festgestellt, sind Sherpatreppen. Zwar sind es heute nur halb so viele wie zum Reinebringen, aber allein der Gedanke daran lässt meine Knie weichwerden und die Waden krampfen. Das Trauma sitzt tief.

Der Einstieg zum Trail liegt direkt am bewaldeten Fuß des Hausbergs. Der Vorteil der Treppen ist natürlich, dass man schnell an Höhe gewinnt. Mit jeder Stufe wird man quasi mit Aussicht belohnt. Wir überstürzen nichts, hecheln nicht mehr so hoch wie noch einige Tage zuvor. An einer Aussichtsplattform planen wir eine längere Pause ein und genießen das Panorama über die größte Stadt der Lofoten. Absurd eigentlich: Mit unter 5000 Einwohnern würde man das Örtchen bei uns eher als Landgemeinde bezeichnen. Und trotzdem strahlt der Ort etwas Großstädtisches aus. Vielleicht liegt es am Hafen, den großen Brücken oder dem dominanten weißen Klotz der Skarvik-Werft.

Hier lasse ich die Drohne steigen. Aus der Vogelperspektive erkennt man, wie sich die Treppe den Berg entlangschlängelt. Sich durch den Wald schneidend erinnert sie an ein mäanderndes Flussbett. Glücklicherweise erkennen wir, dass es nicht mehr ganz so viele Treppenstufen nach oben sind.

Weit über unseren Köpfen sind als kleine bunte Flecken Kletterer an einer Felswand zu erkennen. Sie hängen dort gesichert in ihren Seilen. Die abenteuerliche Kraxelei wirkt von hier aus mühelos und wagemutig zugleich. Der Fels sticht wie ein spitzer Alligatorzahn aus der Umgebung hervor.

Von hier oben wirkt Svolvær wie eine schlafende Spielzeugstadt. Die einzige von hier oben mit bloßem Auge erkennbare Bewegung kommt von den Schiffen und den Booten. Die großen Schiffe ziehen einen langen Schleier aufgewühlten Wassers hinter sich her. Die kleinen, schnellen Boote schneiden sich mit ihrer Bugwelle gut sichtbar durch das erstaunlich ruhige Nordmeer.

Der Rest der Treppenstufen ist schnell erklommen. Jetzt beginnt der etwas entspanntere Teil des Aufstiegs. Er fordert uns zwar etwas mehr Geschicklichkeit ab, aber nicht mehr ganz so viel Kraft in den Beinen. Der Wanderweg ist mal ein ausgewaschener Pfad, mal müssen wir über glatte Findlinge kraxeln. Erodiert von Wetter und den unzähligen auf Schuhen und Hintern rutschenden Touristen. An einigen Stellen ist es sehr schwer, Halt zu bekommen. Hier begeben wir uns auf allen Vieren vorwärts.

Vor uns liegt eine für mich weniger erfreuliche Überraschung: Noch eine Sherpatreppe. Aber ihr Ende ist von hier aus zu sehen, hier können wir immerhin abschätzen, was uns erwartet. Während uns unsere Beine Stufe um Stufe hochdrücken, wirft der Gipfel links von uns seinen Schatten über das letzte Stück bis zum ersten Etappenziel: dem Djevelporten, Teufelstor.

Das Teufelstor ist ein flacher Felsen, der sich in einer Felsspalte verklemmt hat. Der Blick durch das Tor fällt auf eine Talebene und die ausgedehnte Bucht Husvågen. Mit ausreichend Geschicklichkeit oder Leichtsinn findet man einen Weg, auf dem man auf den Torbogen klettern kann. Weder mit Geschicklichkeit noch mit Leichtsinn wollen wir heute glänzen und belassen es bei dem Blick darauf.

Für uns geht es noch ein ganzes Stück zum Bergkamm hinauf. Der Trampelpfad ist kaum zu erkennen und meist sehr schmal. Man muss schon aufpassen, wenn man weder die Vegetation zertrampeln noch seitwärts abrutschen möchte.

Auf dem Bergkamm angekommen erwartet uns die Aussicht, auf die wir lange gehofft haben. Jene, die uns in Svolvær überhaupt Halt machen ließ. Es ist mittlerweile gegen 21:30 Uhr. Das Licht ist im Laufe des Abends deutlich sanfter geworden. Der vor uns liegende Bergkamm zerschneidet die Sicht in zwei Panoramen. Links von uns streift der Blick das Nordmeer. Am Fuße des Berges erkennt man die Ausläufer Svolværs, den Hafen, kleine besiedelte Inseln. Bis zum Horizont erstreckt sich die inselbesprenkelte Küstenlinie Austvågøyas. Rechts, nordwestlich vom Bergkamm, liegt das Inselinnere. Ein Mix aus Seen und Meeresbuchten durchsetzt die unebene, markante Landschaft.

Hier am Ziel sind wir nicht allein: Wir sind in netter, fluffiger Gesellschaft. Eine Herde Schafe hat den Bergkamm in Beschlag und sondiert gemütlich den Trampelpfad und die angrenzende Vegetation. Natürlich gehören Schafe zum Landschaftsbild der Region dazu. Dennoch überrascht es uns, dass wir ihnen ausgerechnet hier, direkt auf dem Bergrücken, begegnen. Sie scheinen das "Meal with a View" zu genießen.

Zwei junge Amerikanerinnen tauchen auf, sind ebenso sichtlich begeistert von dem beeindruckenden Panorama. Sie setzen einen Videocall in die Heimat ab und berichten ergriffen von ihren Eindrücken und den Ziegen, die es sich hier oben bequem gemacht haben sollen. Einen kurzen Augenblick zweifle ich, gehe im Kopf nochmal Vokabeln durch. Ob goats oder sheep ist fast nebensächlich, beides macht mäh, denke ich. Oder in ihrem Fall maa. Aber bald korrigiert die eine die andere, dass es Schafe sind. Mein Weltbild ist damit auch wieder in Ordnung.

Die Mädels wandern weiter und bald schon stößt ein Pärchen in etwa unserem Alter dazu. Er trägt eine gelbe Windjacke, sie eine blaue Wanderhose. Meine plumpe Annahme ist, dass es sich hier um Schweden handeln muss, die Olympischen Spiele stehen nämlich kurz bevor. Sie berichten, dass sie die knapp 1500 Kilometer von zu Hause in Helsinki mit dem Auto zurückgelegt haben. Es sind Finnen.

Das Pärchen wandert den Grat noch ein ganzes Stück weiter. Hinter ihnen sieht man im goldenen Abendlicht die Vågan-Kirche durchblitzen. Umgangssprachlich wird sie Lofotkatedralen genannt. Sie ist die größte Holzkirche nördlich von Trondheim. Weiter hinten, zwischen Horizont und Küstenlinie, erkennt man die Inseln von Henningsvær mit dem markanten Sendemast überhalb des berühmten Fußballplatzes.

Wir haben uns noch lange nicht sattgesehen, und doch müssen wir langsam an den Rückweg denken. Der Weg über Djevelporten und Bergrücken bildet eine Schleife und schließt knapp unterhalb der oberen Sherpatreppe. Vorsichtig staksen wir an den Schafen vorbei. Sie scheinen müde, liegen mittlerweile in Grüppchen aneinandergekuschelt. Teresa setzt sich eine Weile dazu. Sie lassen sich durch uns nicht beirren.

Kaum die Schafe hinter uns gelassen, "verlaufe" ich mich. Irgendwann hüpfe ich von Felsen zu Felsen, die Abstände werden größer. Erst als ich Teresa einige Dutzend Meter schräg hinter mir erkenne, merke ich, dass ich den Pfad verlassen habe. Es wird eine ganze Weile dauern, bis wir wieder zueinanderfinden.

Die Wolken werden mehr, es wirkt nicht mehr ganz so mediterran. Jetzt, wo wir im Schatten des Berges liegen, ist das Panorama über Svolvær kontrastarm und kühler geworden. Die gerade den Hafen verlassende Fähre liegt im Sonnenlicht, das durch den Husvågen durchblitzt. Ganz hinten überm Horizont des Nordmeers sieht man gräuliche Regenschlieren über den Himmel ziehen. Ein Hauch von Regenbogen ist zu erkennen. Dort, wo wir vorhin auf allen Vieren hochgekraxelt sind, rutschen wir jetzt auf unseren Hintern über die glattgeschliffenen Felsen.

Sherpatreppen bleiben Sherpatreppen, ob auf- oder abwärts. Anfreunden kann ich mich mit ihnen nicht. Als wir wieder an ihrem Ende ankommen, ist die Erleichterung groß. Nicht, weil es qualvoll oder übermäßig anstrengend gewesen wäre. Eher, weil die abendliche Expedition ein Erfolg war: Wir haben unzählige überwältigende Eindrücke im Gepäck, die Gewissheit darüber, eines der Wanderhighlights erwandert zu haben, neue flauschige Freunde und auf den letzten Metern auch noch einen verträumten Blick auf die schlafende Marina Svolværs, der das Ganze abrundet.

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